«Forget Me Not»: Ein Turm als wiederbelebter Zeuge von Geschichte(n)
Susanna Koeberle
29. août 2024
Die Installation am Tröckneturm in St.Gallen ist noch bis zum 8. September immer donnerstags, freitags, samstags und sonntags von 11 bis 22 Uhr zu sehen. (Foto: Ladina Bischof)
Die Künstlerin Stéphanie Baechler hatte vor vier Jahren eine Vision: Sie wollte den ausgedienten Tröckneturm in St.Gallen wieder zum Leben erwecken. Dank ihrer Beharrlichkeit ist dieser Traum nun Wirklichkeit geworden.
Bei der temporären Installation «Forget Me Not» kommen so viele Fäden zusammen, dass ich gar nicht weiss, wo ich mit dem Erzählen beginnen soll. Fäden sind Geschichten, das macht auch die amerikanische Philosophin und Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway in ihrem Buch «Unruhig bleiben» deutlich. Ihr Bild der «String Figures» oder zu Deutsch Fadenspiele ist ein willkommener Kompass, wenn es darum geht, über Stéphanie Baechlers Intervention zu schreiben. So verflochten die einzelnen Elemente sind: Es gibt bei diesem Kunstwerk einen roten Faden. Mehr als einen sogar. Allerdings scheint dieser nicht wie Ariadnes Faden aus einem Labyrinth zu führen und damit Ende der Story. Es ist komplexer: Denn trotz der Tatsache, dass die Vision der Künstlerin nach vier Jahren intensiver Recherche und Arbeit nun eingelöst wurde, scheint das Projekt weiterhin Fäden zu spinnen. Einer Cthulhu-Spinne gleich – jenem Wesen, dem Haraways Buch den Untertitel verdankt, nämlich «Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän» – knüpfte und knüpft das Werk fortlaufend neue Gewebe, die sich etwa in Form von Texten manifestieren. Schliesslich kommt das Wort Text vom lateinischen «texere», das weben, flechten, bauen oder errichten meint. Die Installation am Tröckneturm von St.Gallen ist zwar nur an drei Wochenenden zu sehen, hinterlässt aber eine sichtbare Spur in Form eines wunderbar gestalteten Buches, das viele erhellende Texte enthält. Die Publikation «Forget Me Not/Vergissmeinnicht» bildet einen bedeutenden Teil des Projekts.
Die Stoffbahnen sind 15 Meter lang. Der Turm misst 17 × 25 × 26 Meter. (Foto: Ladina Bischof)
So eindrücklich und unmittelbar physisch erfahrbar die Installation «Forget Me Not» auch ist, die Texte, die Leser*innen in der Publikation finden, sind als immaterieller Nährboden integraler Bestandteil der Arbeit von Stéphanie Baechler. Die Künstlerin leistet damit in mehrfacher Hinsicht wichtige Erinnerungsarbeit. Beim Lesen ihrer Texte erfährt man etwa, dass sie während des Recherchierens auf Aby Warburgs «Bilderatlas Mnemosyne» stiess. Gegen Ende seines Lebens schuf der Kulturwissenschaftler auf 63 Tafeln ein visuelles Referenzsystem, das auf Nachbarschaft und nicht auf Chronologie gründet. Seine Rekonstruktion des abendländischen Bildgedächtnisses zeigt auf, dass dieses über Jahrtausende hinweg funktioniert. Auch Baechlers Arbeit entpuppt sich als tentakuläres und erinnerndes Verknüpfen unterschiedlicher Referenzen. Ihre Geschichten handeln auch von menschlichen Begegnungen, die sie im Verlauf des Prozesses machen durfte. Und von einer körperlichen Transformation, die sich auf magische Weise in dieses Narrativ fügt.
Als nämlich die Umsetzung des Projekts endlich in Reichweite rückte, erfuhr sie, dass sie schwanger war. Das mag zunächst nebensächlich erscheinen. Jedenfalls wäre es etwas, das ein Künstler kaum erwähnen würde. Für Baechlers Projekt hatte diese frohe Botschaft allerdings nicht nur organisatorische Konsequenzen. Die Mutterschaft steht in diesem Kontext für eine der vielen unsichtbaren Arbeiten, auf die sie auch in ihrem Projekt hinweisen möchte. Dies tut sie dem Ruf der Mnemosyne folgend. Die Göttin der Erinnerung, Tochter von Uranos und Gaia sowie Mutter der neun Musen steht der Arbeit indirekt auch im Namen Pate: «Forget Me Not». Und gleich geht’s weiter mit den Fadenspielen: Denn die Stoffbahnen, die jetzt vom ehemaligen Tröckneturm – dazu gleich mehr – hängen, ziert das Motiv einer Vergissmeinnicht-Blume. Und zwar als Übersetzung ins Lochkartensystem, das in der Schweizer Textilindustrie seit dem späten 19. Jahrhundert verwendet wurde. Bis heute nutzt die Firma Fehrlin dieses Blumenmotiv für Taschentücher. Doch jetzt möchten die geschätzten Leser*innen wohl mehr zur Geschichte des Turms erfahren. Kommt gleich.
Das vergrösserte Lochkartenmuster erinnert an eine Erfindung der Textilindustrie. Der Name der Installation «Forget Me Not» nimmt auf das Motiv der Vergissmeinnicht-Blume Bezug. (Foto: Ladina Bischof)
Zu diesem Unterfangen angeregt wurde die Künstlerin durch eine historische Fotografie, die sie während ihrer Recherche für den Aufenthalt im Rahmen des TaDA-Künstler*innen-Residenzprogramms (Textile and Design Alliance) im Jahr 2020 entdeckte. Sie zeigte den «Hänggiturm» der ehemaligen Druckerei Freuler in Glarus. Der 1867 erbaute Lufthängebau wurde 1987 zerstört und 1992/93 wieder aufgebaut. Heute befindet sich dort das Anna Göldi Museum. Zur Erinnerung: Die Magd Anna Göldi wurde 1782 in Glarus als eine der letzten Hexen Europas hingerichtet. Auch dieses Kapitel der Geschichte wurde in der Schweiz erst spät aufgearbeitet. Das Bild dieses Turms ist eines der wenigen, das einen solchen Hängeturm in Funktion zeigt. Baechler war fasziniert von den langen Textilbahnen, die an der Fassade dieses besonderen Gebäudes hingen.
Die Schweizer Künstlerin Stéphanie Baechler lebt seit mehreren Jahren in Amsterdam. (Foto: Francesco Ragusa)
Das Fehlen von weiterem fotografischen Dokumentationsmaterial erweckte in ihr den Wunsch, der vergessenen Geschichte der Schweizer Textilproduktion mehr Sichtbarkeit zu verleihen: als Kunstwerk im öffentlichen Raum. Plötzlich wurde der Turm, den sie bereits aus ihrer Zeit als Mitarbeiterin im St.Galler Textilunternehmen Jakob Schlaepfer kannte, zu einem Wesen, das zu ihr sprach. Das klingt jetzt esoterisch. Aber im Grunde bezeugt das nichts anderes, als dass die vermeintlich tote Materie eine Stimme besitzt. Die Denker*innnen des «New Materialism» nennen das die Wirkmächtigkeit der Materie. Baechler ist mit den Frauen dieser philosophischen Strömung gleichsam verschwestert; auch ihr geht es darum, Unsichtbares sichtbar zu machen – und damit zugleich an starren Systemen zu rütteln. Bei ihrer Installation werden die 370 Meter Stoffbahnen – die zehnfache Menge, die es für ein Vergissmeinnicht-Motiv braucht – am Tröckneturm zu einer Art beredten Membran zwischen digitalen und analogen Fertigungsmethoden. Dies insofern, als die Lochkarte als Vorläuferin des Computers ihre Funktionsweise sichtbar machte, während diese in den heutigen elektronischen Geräten verborgen bleibt.
Der 25 Meter hohe St.Galler Tröckneturm wurde 1828 erbaut. In luftiger Höhe wurden dort früher die gefärbten Stoffbahnen getrocknet. Interessant ist der Verweis auf die Farbe dieser Textilien. Denn diese waren häufig rot. Man nannte dieses leuchtende Kolorit auch Türkischrot – in Anlehnung an den Ursprung der Wurzel der Krapppflanze, die zum Färben verwendet wurde, und als Verweis auf die Exporte dieser roten Textilien in ferne Länder, darunter auch in die Türkei. Der Turm beim Burgweiher ist ein besonders schönes Exemplar, das diese spezielle Typologie von hölzernen Nutzbauten dokumentiert.
Der weisse Stoff stammt von der Firma Sefar, die irisierende Folie von Lobra. (Foto: Ladina Bischof)
Zurück zu «Forget Me Not»: Neben der Recherche in den Archiven war auch die materielle Umsetzung unglaublich zeitintensiv. Baechler wurde nach langer Suche bei der Firma Sefar fündig, die heute Präzisionsgewebe und Filterkomponenten herstellt. Der Stoff – ein Restposten aus der Produktion – erfüllte die vielen Kriterien für das Projekt: Er besitzt ein bestimmtes Gewicht und lässt sich gut lasercutten. Nach den vielen Materialtests ging es überdies darum, die richtige Hängevorrichtung für die Stoffbahnen zu entwickeln. Auch das war keine einfache Angelegenheit. An all diesen Prozessen lässt uns die Künstlerin im Buch teilhaben, inklusive guten und schlechten Nächten mit der neugeborenen Tochter. Das Verflechten der Recherchearbeit mit diesen persönlichen Elementen passt zur Form des Logbuchs, das sich als fortlaufende Erzählschicht durch das Buch zieht. Die Schwarz-Weiss-Fotografien von Ladina Bischof dokumentieren zudem die 27 noch verbliebenen Tröcknetürme in der Schweiz. Darüber montierte Rudy Guedj, der visuelle Gestalter und Herausgeber des Buches, eine rote Schicht mit Baechlers Recherchematerial. Die mehrschichtige Arbeit der Künstlerin legt viele faszinierende Geschichten offen und erinnert nicht zuletzt an den kolonial-globalen Kapitalismus, auf dem letztlich der Reichtum unseres Landes gründet. Mehr Verknüpfung geht nicht. Mehr Schönheit übrigens auch nicht. Dafür danke ich Stéphanie Baechler.
Die Ausstellung «Forget Me Not» im Tröckneturm St.Gallen (Burgweiherweg, 9000 St.Gallen) dauert noch bis zum 8. September 2024. Geöffnet ist sie donnerstags, freitags, samstags und sonntags von 11 bis 22 Uhr. Es finden verschiedene Begleitveranstaltungen statt. Zum Programm
Forget Me Not
Stéphanie Baechler
mit Texten von Stéphanie Baechler, Andreas Zangger und Michael Gnehm
220 × 340 Millimeter
404 Pages
Paperback
ISBN 978-90-833756-2-5
Building Fictions
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