Eine Liebeserklärung an die Architektur – und das Schreiben
Elias Baumgarten
7. décembre 2023
Foto: Elias Baumgarten
37 ihrer besten Aufsätze und Interviews hat Sabine von Fischer in einem Lesebuch versammelt. Manche sind ermutigend, andere stimmen nachdenklich. Und in der Zusammenschau ergibt sich ein neues Bild – so lohnt sich «Architektur kann mehr» selbst für die, die eigentlich schon alle Texte darin kennen.
Seit ich erfahren habe, dass dieses Buch erscheinen wird, habe ich mich riesig darauf gefreut. Und als es dann Wochen später endlich im Briefkasten lag, versüsste es mir ein verschneites, klirrend kaltes Wochenende. – Eigentlich verrückt, kannte ich doch alle Besprechungen und Interviews in «Architektur kann mehr» schon längst. Wie kann man es beglückend finden, Bekanntes noch einmal zu lesen? Vielleicht liegt es daran, dass meine Leidenschaft dem Schreiben gilt. Ich habe einfach die grösste Freude an gut gemachten, aufwendig recherchierten Artikeln – egal ob Architekturkritiken, Interviews oder Reportagen. Mich begeistern durchdachte Argumentationen, präzise Beobachtungen und vor allem sprachliches Geschick. Leider wird es immer schwieriger, solche Texte zu finden. Längst vorbei sind die Zeiten, als die renommierten Tageszeitungen und Magazine damit gespickt waren. Darum machen Lesebücher wie «Architektur kann mehr» Freude. Und darum bleibt nebenbei bemerkt «Irrland» von Margrit Sprecher das mit grossem Abstand bewegendste Buch, das ich bisher gelesen habe.
Foto: Elias Baumgarten
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Aber der Reihe nach: Sabine von Fischer versammelt in «Architektur kann mehr» 37 Zeitungsartikel, die sie in den letzten Jahren vor allem für die Neue Zürcher Zeitung geschrieben hat. Sortiert sind sie nach vier thematischen Kapiteln, die sich dem Zusammenleben und der Verdichtung, der Verflechtung zwischen Architektur und Politik, der Sorge um den Klimawandel und der Ästhetik widmen. Gleich der erste Beitrag, eine Besprechung der Wohnsiedlung Vogelsang von Knapkiewicz & Fickert in Winterthur, ist ein Genuss: Mit Leichtigkeit gelingt es, die Anlage kritisch zu besprechen, Einblick in ihre Entstehungsgeschichte zu geben und Bauherrschaft wie Architekten zu Wort kommen zu lassen, wobei letztere auch noch mit wenigen Sätzen eindrücklich porträtiert werden. Mit Sprachwitz entsteht eine unterhaltsame Geschichte, und nicht einmal verheddert sich der Artikel in den vielen Erzählsträngen.
Wunderbar ist auch das Interview mit Pritzker-Preisträgerin Anne Lacaton, das den Bogen von ihrem bekannten Projekt in Bordeaux über ihre Haltung zum Wettbewerbsbeitrag ihres Büros für die Zürcher Maag-Hallen spannt, der leider nicht mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Selbst wenn man meint, schon alles über Anne Lacaton und ihren Partner Jean-Philippe Vassal zu wissen, ist das Interview erhellend, ja inspirierend. Anne Lacatons Optimismus und ihre Unverdrossenheit wirken ansteckend. Das Gespräch hinterlässt ein gutes Gefühl.
Sabine von Fischer beweist mit «Architektur kann mehr» ausserdem, dass sie mit spitzer Feder zu kritisieren weiss. An Aaraus umgestaltetem Industriequartier stören sie die asphaltierten, leeren Aussenräume: «Da kommen einem fast die Tränen, wenn zwischen dem wenigen Gras in den abgesenkten Versickerungsflächen nur graue Flächen den Weg zeigen. Die vereinzelten, einsam aufgestelzten Sitzbänke wirken wie eine Geste aus Verlegenheit. Verlegen sind auch die Antworten auf die Nachfrage, ob der Platz denn so fertig gebaut sei.» Und doch verkommt der Text nicht zum Gemotze, sondern bleibt ausgewogen und respektvoll. Die Gestaltung der Häuser des Aeschbachquartiers wird gelobt, das Schlussfazit lässt sich als Ermutigung zur Korrektur lesen: «Zum Glück können Plätze und Boulevards – einfacher als die Häuser selber – auch über Jahre noch verändert, austariert und mit neuen Belägen statt Asphalt ausformuliert werden. Das könnte in Aarau ja noch passieren.» Konstruktive Kritik bedeutet Wertschätzung.
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Was mir allerdings bei aller Freude über das Buch bei der Lektüre zu kurz kommt, sind die Stimmen junger, noch wenig bekannter Architekt*innen. Als Leser entdecke ich gerne neue Protagonist*innen, Meinungen und Herangehensweisen. Gewiss interessiert, was die grossen Namen zu sagen haben. Doch wir haben in der Schweiz Talente, die für ihr soziales und politisches Engagement oder ihre ökologischen Ansätze auch die Bühne einer grossen Tageszeitung verdient hätten.
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Ein grosser Mehrwert der Sammlung liegt darin, dass die Artikel in neuer Nachbarschaft zusammenfinden. Nehmen wir zum Beispiel die beiden Interviews mit Manuel Herz, die am Ende des dritten Kapitels direkt aufeinanderfolgen: Das erste dreht sich um sein Spital in Tambacounda im Senegal, dessen perforierte Steinfassade von einem örtlichen Baumeister für ein Schulhaus «gekapert» wurde – nicht zum Ärger, sondern zur Freude des Basler Architekten. Das zweite Gespräch führte Sabine von Fischer mit ihm unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine, der den Erinnerungsort Babi Jar, wo 1941 über 33'000 Menschen ermordet wurden, zum Kriegsschauplatz machte. Russische Raketen schlugen unweit der verletzlichen hölzernen Synagoge ein, die Manuel Herz kurz zuvor auf dem Gelände hatte bauen dürfen. Zusammen lassen die beiden Interviews ein wunderbares Porträt des Architekten entstehen. Manuel Herz erscheint nicht nur als begabter Gestalter, sondern als wunderbarer, offener Mensch mit grossem Herz.
Eine lohnende Erfahrung ist auch, die verschiedenen Gespräche mit Jacques Herzog nacheinander zu lesen. Hatten Interviewerin und Architekt anfänglich offensichtlich ihre Differenzen, wird man gewahr, wie das gegenseitige Verständnis Stück für Stück wächst. Das ist wunderbar authentisch. Man merkt schnell: Im Gewebe der 37 Artikel gibt es viele Geschichten zu entdecken und interessante Beobachtungen zu machen. Aus der Zusammenschau lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die bei der isolierten Lektüre der einzelnen Beiträge verwehrt bleiben.
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Das Buch endet mit einer bewegenden Reflexion zur Bedeutung der Architekturkritik. Sie mahnt und stimmt nachdenklich – gleichzeitig kann sie Ansporn sein. Eine Passage hat sich mir besonders eingeprägt: «Auch dafür braucht es den Journalismus: Für das schonungslose Hinterfragen der von Marketingagenturen lancierten Provokationen und Behauptungen.» Wünschen wir uns doch, dass das kritische Schreiben über Architektur bald wieder einen angemessenen Platz in den Tageszeitungen beziehungsweise auf deren Online-Plattformen erhält. Denn sie bleiben eines der wichtigsten Foren für gesellschaftliche Debatten, und gerade heute, gerade in Anbetracht von Klimakrise und gesellschaftlichen Umbrüchen wäre eine breit geführte Diskussion über unsere gebaute Umwelt extrem wichtig. «Architektur kann mehr» wird also hoffentlich einen neuen Startpunkt markieren und keinen Schlussstein.