Die Karriere des Welleternit
Hubertus Adam
3. junio 2021
Ernst Neuferts Handbuch für die damalige Eternit AG, 1955 (Umschlaggestaltung: Helmut Lortz)
Zunächst für das Decken von Dächern entwickelt, avancierte Welleternit seit den 1930er-Jahren zum weithin genutzten Fassadenmaterial für Industriebauten. In jüngster Zeit gelangt es verstärkt auch an Wohnbauten zum Einsatz – in der postindustriellen Gesellschaft ist ein industrieller und unprätentiöser Touch durchaus gefragt.
Schon in den 1930er-Jahren hatte der Schweizer Architekt Hans Brechbühler (1907–1989) konstatiert, Welleternit sei die ideale Bekleidung – es isoliere, sei wasserdicht, besitze eine gute Festigkeit und könne in grossen Platten von bis zu 3,75 Metern Länge innerhalb kürzester Zeit durch jeden Dachdecker angeschlagen werden. Es lasse sich überdies bequem bohren und zersägen und besitze gegenüber Wellblech den Vorteil, nicht zu rosten und nicht gestrichen werden zu müssen.
Ausschlaggebend für die heute wieder aufkommende Wertschätzung des Materials dürfte sein, dass sich seine Wahrnehmung über die Zeit sukzessive verändert hat. In den 1980er-Jahren setzte in der Schweizer Architektur eine neue Begeisterung für unprätentiöse und alltägliche Materialien ein. Ausserdem haben industriell konnotierte Baustoffe inzwischen auch im Bereich des Wohnens Akzeptanz gefunden – was nicht verwundert, wenn das Loftwohnen in alten Fabriketagen als besonders angesagt gilt.
Christ & Gantenbein, Wohnhaus in Arlesheim, 2002 (Foto: Archiv Eternit (Schweiz) AG)
Aeby Aumann Emery, Wohnhaus bei Villarepos, 2010 (Foto: Jürg Zimmermann)
Einen spielerisch-ironischen Umgang zeigte 2002 der von Christ & Gantenbein entworfene Anbau an ein Wohnhaus in Arlesheim. In die Schalungen des Betonbaukörpers wurden Welleternitplatten eingelegt, sodass deren Abdrücke die Fassade strukturieren. Einerseits lassen die Architekten so die Idee eines ephemeren Gartenpavillons anklingen, andererseits erfolgt die Transformation von einer dünnen Platte in massiven Beton, der aufgrund der wie Kanneluren erscheinenden Oberflächen fast antikische Kraft erhält.
Welleternit als Schalungsplatten für Stahlbetonwände, die sich hier im Inneren des Hauses befinden, nutzten auch Aeby Aumann Emery bei einem Wohnhaus in der Landwirtschaftszone am Westrand von Villarepos (2010). Bei den Aussenwänden setzt sich diese Gestaltung scheinbar nahtlos fort, doch handelt es sich dort um Holzrahmenkonstruktionen, die mit geschosshohen Wellplatten verkleidet sind. Gerahmt und eingefasst wird das Wohngeschoss durch eine auskragende Betonplattform, die über dem Gelände zu schweben scheint, und die korrespondierende Dachplatte. Dies lässt die Wände wie Vorhänge wirken. Spannend ist der Kontrast zu dem etwas tiefer gelegenen, gleichzeitig errichteten Stall: Auch hier verwendeten die Architekten Welleternit als typisches Material ländlicher Funktionsgebäude. Die Platten überlappen sich, bilden also eine flächige Hülle, während sie beim Wohnhaus durch Einbindung in das architektonische System gleichsam domestiziert auftreten – ein intelligenter und spannungsvoller Dialog zwischen den beiden Baukörpern entsteht.
Itten+Brechbühl, Wohnbau an der Hegenheimerstrasse, Basel, 2020 (Foto: Yohan Zerdoun)
Atelier Abraha Achermann, Wohnen auf dem Areal Erlenmatt Ost, Basel, 2019 (Foto: Rasmus Norlander)
Ebenfalls geschosshohe Welleternitplatten, von Geschossplatten aus Beton gerahmt, setzten Itten+Brechbühl bei einem Wohnbau an der Hegenheimerstrasse in Basel (2020) ein. Das Gebäude befindet sich im Inneren einer Blockrandbebauung; die expressive Form resultiert aus den nötigen Grenzabständen. Früher standen in derlei Hofsituationen Schuppen und Gewerbebauten. Wenn die Architekten nun also auf das Material Welleternit setzen, so wecken sie damit Assoziationen an diese früheren unprätentiösen Bebauungsstrukturen. Durch die grüne Lasur der Platten wird gleichwohl ein Element der Verfremdung erzielt – der Gewerbehof hat sich in einen Hofgarten verwandelt.
Letztlich ebenfalls um Hofgebäude handelt es sich bei den zwei Bauten von Atelier Abraha Achermann auf dem Areal Erlenmatt Ost in Basel (2019). Die Volumina orientieren sich nicht zur Strasse, sondern grenzen direkt an den Park an, der auf dem Areal des ehemaligen Güterbahnhofs entstanden ist. «Wohnregal» nennen die Architekten ihr Konzept eines flexiblen und experimentellen Wohnens, das auf einer gliedernden Schottenstruktur von 3,2 Metern Breite beruhte. Die zurückgesetzten Fassadenelemente bestehen aussen aus Welleternit im Naturton und sind innen mit Seekieferplatten beplankt.
Enzmann Fischer, Zollhaus Zürich, 2021 (Foto: Annett Landmann)
Adrian Streich, Wohnen Manegg, Zürich, 2017 (Foto: Jürg Zimmermann)
Direkt an der Einfahrt zum Hauptbahnhof Zürich steht seit kurzem die Überbauung Zollhaus (2021) des Architekturbüros Enzmann Fischer. Es handelt sich um das zweite Bauprojekt der Baugenossenschaft Kalkbreite, die hier erneut mit innovativen Wohnformen experimentiert. Der Planungsprozess erfolgte in enger Abstimmung mit den zukünftigen Mieterinnen und Mietern. Diese hatten sich ursprünglich eine stark begrünte Fassade gewünscht. Das liess sich jedoch aus Kostengründen nicht umsetzen, und so wurde schliesslich Welleternit eingesetzt. Das Material bot sich nicht nur aus Gründen des Brandschutzes an – die drei Volumina stehen nahe beieinander und sind durch einen gemeinsamen Sockel verbunden –, sondern auch aus ästhetischen und städtebaulichen Gründen, handelt es sich doch um ein ehemaliges Gewerbeareal, dessen Reiz auch heute noch der Blick auf das Gleisfeld ausmacht. Hier waren Welleternitplatten eine adäquate Fassadenverkleidung. Enzmann Fischer verarbeiteten sie zu überlappenden, die Geschossigkeit überspielenden und gebäudehohen Bahnen. Dabei wurden sie mit der raueren Rückseite nach vorne versetzt, um die Spuren des Alterns am Gleisrand deutlicher sichtbar zu machen.
Ebenfalls mit den unterschiedlichen Möglichkeiten der Oberflächenbehandlung spielt schliesslich Adrian Streich bei seinem genossenschaftlichen Bauprojekt im Bereich des ehemaligen Industrieareals Manegg im Süden von Zürich (2017), das derzeit als «Green City» neu entwickelt wird. Auch hier prägen Bahnen aus Welleternit die Fassaden, die lediglich lasiert wurden, um die Faserzementstruktur sichtbar zu belassen. Im Hof hingegen sind die Wellplatten weiss gestrichen. Der Anstrich reflektiert das Licht und lässt sich problemlos bei Verschmutzung erneuern.
Welleternit zeichnet sich bei geringem Materialverbrauch wie Wellblech durch eine hohe Steifigkeit und Tragfähigkeit aus. Er war zunächst ein Material der Hinterhöfe, Provisorien und Dächer, bis die Architekten in den 1930er-Jahren Welleternit als neuen Baustoff entdeckten; das Lagerhaus einer Samenhandlung in Köniz bei Bern (1935) von Hans Brechbühler gilt als erstes Gebäude, das komplett mit diesem Material verkleidet wurde.
Die grosse Zeit des Welleternits im Industriebau waren allerdings die 1950er-Jahre. Die Zürcher Architekten Haefeli, Moser, Steiger entwarfen das Schweizer Verwaltungsgebäude von Eternit in Niederurnen (1953–55). In Deutschland realisierte Ernst Neufert (1900–1986), der Verfasser der bekannten «Bauentwurfslehre», fast zeitgleich den Neubau des Eternit-Werks in Leimen bei Heidelberg (1954–1960). Im Auftrag der deutschen Eternit AG verfasste er auch ein «Well-Eternit Handbuch», das in erster Auflage 1955 erschien und Architekten mit einer grossen Anzahl von Plänen und Detaillösungen den Einsatz des Materials schmackhaft machen sollte. Auch wenn Welleternit in dieser Zeit selbst in den Sakralbau Einzug hielt: Ganz abstreifen konnte der Baustoff den Charakter des Epheren, Provisorischen und Industriellen nicht. Das hat sich erst in der jüngsten Zeit geändert.