Sozialmaschinen, die die Schwerkraft auszuhebeln scheinen – zum Tod von Paulo Mendes da Rocha
Manuel Pestalozzi
25. mayo 2021
Auf dem Dach des SESC 24 de Maio, dem vielleicht beeindruckendsten und inspirierendsten Bauwerk von Paulo Mendes da Rocha (Foto © Ciro Miguel, 2018)
Der Pritzkerpreisträger von 2006 war ein Visionär: Er gestaltete in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft grossartige Orte für die Gemeinschaft und beschäftigte sich früh mit dem Um- und Weiterbauen. Einzigartig war sein Umgang mit Beton, den er federleicht wirken lassen konnte.
Paulo Mendes da Rocha wurde 1928 in der brasilianischen Hafenstadt Vitória, Espírito Santo, geboren. Sein Architekturstudium nahm er in der rund 750 Kilometer weiter südwestlich gelegenen Grossstadt São Paulo auf. Nach seinem Abschluss gründete er dort 1954 ein eigenes Architekturbüro und blieb der Stadt bis an sein Lebensende eng verbunden. Schon sein erstes Bauwerk, der Club Athletico (1958), erlangte Aufmerksamkeit und ist zwischenzeitlich in die Architekturgeschichte eingegangen. Zuletzt arbeitete er mit dem Büro MMBB arquitetos zusammen. Gemeinsam schufen sie auch eines seiner grossartigsten Projekte – den Komplex SESC 24 de Maio. Die Umgestaltung des Verwaltungsbaus eines Möbelhauses ist heute ein öffentliches Wohnzimmer. Es beherbergt Restaurants, Spielplätze, Kletterwände und eine Bibliothek. Und auf dem Dach plantschen und schwimmen an heissen Tagen über 400 Menschen in einem grossen Swimmingpool. Bis zu 10 000 Personen besuchen die Anlage täglich.
Paulo Mendes da Rochas soziales Engagement war echt und stark. Er gestaltete während seiner Karriere vor allem Stadien, Kirchen und Kulturbauten, aber auch Ämter – Orte für die Gemeinschaft, Orte für die Konstruktion von Gemeinschaft, Sozialmaschinen. Ein interessantes Beispiel ist neben dem eben erwähnten SESC 24 de Maio sein enormer Verwaltungsbau Poupatempo (1998), in dem sich diverse Behörden und ein Polizeirevier befinden. Der Gang aufs Amt kann dort viel angenehmer und rascher erledigt werden als sonst in Brasilien. Mendes da Rochas Arbeit an solchen Projekten hatte zuvorderst auch politische Gründe: Er war – wie João Batista Vilanova Artigas (1915–1985), eines seiner grossen Vorbilder – ein bekennender Marxist. Er wurde beispielsweise nicht müde zu betonen, dass Boden öffentlich sein müsse und als nicht vermehrbare Ressource niemals privatisiert werden dürfe. Seine Zughörigkeit zur politischen Linken führte allerdings dazu, dass seine Arbeit international lange kaum beachtet, ja geflissentlich ignoriert wurde. Selbst sein famoser Pavillon für die Expo ’70 im japanischen Osaka, der verwegen auf einem Hügel balancierte, änderte daran kaum etwas. Und schlimmer noch: Auch in seiner Heimat brachte ihm seine politische Haltung während der Zeit der Militärdiktatur (1964–1985) viele Probleme ein. Erst in den 1980er-Jahren durfte er seine frühere Lehrtätigkeit wieder aufnehmen.
Paulo Mendes da Rocha nimmt den Goldenen Löwen in Empfang. (Foto: John Hill)
Später RuhmUmso stärker war hingegen die Aufmerksamkeit, die ihm in seiner späteren Schaffensphase zuteil wurde. Dies bezeugt eine veritable Kaskade von grossen Ehrungen: Den Mies-van-der-Rohe-Preis erhielt er im Jahr 2000, der so wichtige Pritzker-Preis folgte 2006, 2016 wurde ihm dann der Goldene Löwe der Architekturbiennale von Venedig verliehen und 2017 schliesslich auch noch die Goldmedaille des Royal Institute of British Architects (RIBA).
In der Schweiz bemühte sich insbesondere Annette Spiro, Professorin an der ETH Zürich, um die Vermittlung des Werkes von Paulo Mendes da Rocha. Sie verfasste 2006 die erste umfassende Monografie über ihn im deutschsprachigen Raum überhaupt. Das Buch würdigt einen Architekten, der den Sichtbeton leicht erscheinen liess und in einer eigenen, unverwechselbaren architektonischen Sprache ein Werk schuf, das, so schreibt Annette Spiro darin, «durch seine schöpferische Kraft über die vergänglicheren Zeitströmungen hinausragt».
Doch nicht nur seine grosse Finesse im Umgang mit Beton machte die Architektur von Paulo Mendes da Rocha einzigartig. Auch war er ein Regionalist im allerbesten Sinne: Die Konzepte der Moderne passte er den klimatischen und sozialen Bedingungen seiner Heimat an. Auffallendes Merkmal seiner Bauten ist, dass sie nicht nur auf den Ruf nach «Licht, Luft und Sonne» reagieren, sondern zugleich Schatten spenden. Denn in heissen Ländern wie Brasilien brauchen die Menschen vor allem auch Schutz vor der extremen Sonneneinstrahlung.
Am 23. Mai verstarb Paulo Mendes da Rocha. Seine Schaffenskraft hatte bis zuletzt nicht nachgelassen und er hatte sich nicht zur Ruhe gesetzt. Mit ihm verlieren wir nicht nur einen überaus talentierten Gestalter, sondern auch einen politischen Architekten, der für seine Überzeugungen eintrat und stets versuchte, in ihrem Sinne zu handeln.