Orte des Gebets, der Besinnung oder kurzen Auszeiten
Inge Beckel
14. enero 2016
Das Grossmünster mitten in der Zürcher City, gesehen vom Lindenhof aus. Bild: zuerich.com.
Man findet sie in absoluten Toplagen. Sie sind meist gross, hoch und geräumig. Die Räume nicht übermässig erhellt, sondern eher etwas «schummrig». Der Aufenthalt ist kostenlos und ohne Konsumzwang. Gemeint sind Citykirchen. Etwa das Grossmünster.
Die evangelisch-reformierte Kirche ist ein Wahrzeichen Zürichs. Sie ist ein städtebaulich ausgezeichneter Ort, gelegen auf erhöhter Terrasse oberhalb der Limmat. Sie steht quer zur Stadtanlage und schiefwinklig zur Limmat. Auch geostet ist sie nicht – entgegen den meisten mittelalterlichen Kirchen –, sondern weicht 36° von Osten ab. Das Grossmünster sei nach Sonnenaufgang an der Wintersonnenwende orientiert, heisst es.1
Im Jahre 2015 zählte das Grossmünster rund 600'000 Besucherinnen und Besucher. Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster und Dozent für Diakoniewissenschaft an der theologischen Fakultät der Universität Bern, kann diese recht genau quantifizieren – die Menschen, die «seine» Kirche besuchen. Denn am Portal zum Grossmünster wurden Lichtschranken eingebaut.
Atmosphäre, Geschichte, Frömmigkeit
Nun hört man in Architekturkreisen immer wieder von leer stehenden Kirchen. Von Umnutzungen. Gelegentlich gar von Verkäufen. Dies betreffe mehr peripher gelegene Kirchen, meint Sigrist. So wurden in Ebnat-Kappel und in St. Gallen kürzlich Kirchen verkauft. Ein aktueller Fall einer Umnutzung betrifft die Rosenberg-Kirche in Winterthur. Dort werden 70 asylsuchende Menschen eine vorübergehende Bleibe finden.
Die Entwicklung von zentralen Kirchen in Citylagen aber ist eine gegenteilige. Verteilt man rein rechnerisch die 600'000 Menschen, die während des Jahres 2015 das Grossmünster besucht haben, auf die Stunden tagsüber, in denen die Kirche geöffnet ist, so strömen jede Stunde mehr als 200 Menschen in den Kirchenraum inmitten der Zürcher City. Warum aber kommen sie? 20 Prozent, so Sigrist, kämen aus religiöser Überzeugung. Sie beten, nehmen an einem Gottesdienst teil, praktizieren ihren Glauben. Es ist ihre Frömmigkeit, die sie hierhin, in den Kirchenraum hinein führt.
Viele andere Menschen, deren Anteil rund 40 Prozent ausmacht, kommen aus geschichtlichen Gründen. Wegen der Kirchenpatrone Felix und Regula oder Exuperantius. Oder generell der Bedeutung der Kirche in der Entwicklung Zürichs wegen. Oder aus persönlichen Gründen. Wenn man etwa auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte forscht. Oder man wurde hier getauft oder konfirmiert. Zu dieser Gruppe können Touristen gehören, die den Ort als kulturhistorisch bedeutend wahrnehmen.
Nochmals 40 Prozent der Grossmünster-Besucherinnen und -Besucher, so Sigrist weiter, schätzten die Ästhetik, den Klang und die Atmosphäre des Kirchenraums, nicht zuletzt seine Ruhe. Die Wissenschaftlerin Asha De nennt drei Aspekte, die sakrale Räume zu besonderen Räumen machen. Einmal ist es deren Volumen, ihre Grösse und Höhe. Es ist also ihre Mächtigkeit oder Weiträumigkeit, die Sakralräume von normalen Wohn- und Arbeitsräumen unterscheidet. Dazu kommt ihre Materialität. Ihre Haptik. Es ist vor allem Stein und mit ihm die Masse, die Menschen gerne berühren, wenn sie sich in einer Kirche aufhalten, ihre Stützen abschreiten. Am Stein können sie sich festhalten, wenn sie in die Höhe zur Decke schauen. Als dritter Punkt kommt das schummrige oder – je nach Vergleich – das fast «fehlende» Licht, respektive die Atmosphäre dazu, die grundsätzlich einen sakralen Raum als besonderen auszeichnet.
Durch Leere geprägtes Inneres im Grossmünster. Bild: ib.
Der leere Raum
Etwas, das evangelisch-reformierte Kirchen weiter auszeichnet, ist ihre Leere. Diese findet sich in vergleichbarer Form ebenso in Beträumen der Muslime und in solchen der Juden. Womit sich diese drei Glaubensgemeinschaften hinsichtlich ihrer Beträume von den Katholiken und orthodoxen Christen unterscheiden. Denn letztere kodieren ihre Räume weit stärker mit Bildern und Symbolen, man denke beispielsweise an das Gotteshaus des üppig ausgestalteten Klosters Einsiedeln. Bei Moscheen, Synagogen sowie evangelisch-reformierten Kirchen jedoch gilt im Grundsatz ein Bilderverbot.
Eine Ausnahme in den evangelisch-reformierten Kirchen sind Fenster. Die Kirchenfenster des Grossmünsters zum Beispiel stammen von berühmten Künstlern verschiedener Perioden. Die frühen datieren aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, wofür Georg K. Kellner verantwortlich zeichnet. Die nächste Phase stammt aus den späten 1920er-Jahren, der Künstler heisst Augusto Giacometti. Die jüngsten Kirchenfenster sind von Sigmar Polke und datieren aus dem Jahre 2009.
Die genannte generelle Leere aber kann es anderen Konfessionen erleichtern, in diesen Räumen zu beten. So sagt Sigrist, dass er es schon erlebt hat, als er an einem Freitag in der Zwölf-Boten-Kapelle im Grossmünster betete, dass neben ihm ein Muslim seinen Teppich ausgerollt und sich seinerseits ins Gebet vertieft hat. Nach den Anschlägen in Paris vom vergangenen November hielten gar ein Imam und ein Rabbiner zusammen mit Sigrist im Grossmünster gemeinsam einen christlichen Gottesdienst mit interreligiösem Teil. Dies sei wohl für beide nur an einem Ort möglich gewesen, der weder zum Islam noch zum Judentum gehört. Und gleichzeitig eben leer ist. Womit der leere Gebetsraum den jeweiligen Riten und Praktiken entsprechend genutzt und belebt werden kann.
Kirchenräume in Citylagen sind also gut frequentiert. Sie werden genutzt, in und mit ihnen wird gebetet und gedacht. Zuweilen wird dort einfach Ruhe gesucht. Es sind Orte zwischen der Lebendigkeit, ja Hektik der profanen und der Religiosität, der Gemeinschaft oder individuellen Besinnlichkeit der sakralen Welt. Es sind heilige – ja, heilende Orte. Schliesslich sind es physisch greifbare Orte. Damit zuweilen Gegenorte zur virtuellen Welt. Denn unsere Welt muss haptisch auch greifbar – und damit be-greifbar sein.
Auf der Grossmünster-Terrasse. Bild: ib.
Anmerkung
1 Vgl. etwa Ausführungen zum Blauen oder Georg-Büchner-Platz auf dem Gelände der Universität Zürich Irchel des Künstlers Gottfried Honegger; vgl. etwa hier.