Diszipliniert, unbeschwert und plastisch
Inge Beckel
30. enero 2014
Flamatt II, Flamatt FR, Atelier 5, 1961. Alle Bilder: Sebastian Heeb, Schweizer Heimatschutz, SHS
Was wurde in den 1960er-Jahren gebaut, in einem gesellschaftlichen Umfeld zwischen «Wiederaufbau» und 1968? Was in der Zeit vor und nach der Erdölkrise und des Berichts des Club of Rome der frühen 1970er-Jahre? Ein geraffter Rückblick auf ausgewählte Beispiele der Baukultur jener Schwellenjahre.
Trotz rekordtiefer Zinsen vergeben die Banken kaum Kredite an Firmen, wie der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, klagt. Stattdessen landet das Geld an Börsen und auf Immobilienmärkten.1 Ja, die Baubranche boomt. Die Nachfrage ist gross. Als Gründe lassen sich einerseits eine gegenüber den Auswanderern grössere Zahl an Einwanderern ausmachen, gleichzeitig stiegen und steigen die Geburtenzahlen in der Schweiz in den letzten Jahren wieder an, nach Jahrzehnten des Rückgangs. Sie sollen derzeit, zumindest gebietsweise, mit jenen der Babyboomer aus den 1960er-Jahren gleichgezogen haben. Ein weiterer, insgesamt wohl stark ins Gewicht fallender Grund für die Nachfrage aber ist der seit Jahren wachsende Platzanspruch pro Person; er liegt heute bei rund 50 Quadratmetern pro Kopf. Sei es, weil die Wohnungen grösser werden, sei es augrund der Zweitwohnungen – ferienhalber in Tourismusgebieten oder umgekehrt, arbeitshalber in den Zentren.
Dabei kommt nicht nur die Landschaft unter Druck, auch innerhalb der Siedlungsgebiete wird bekanntlich verdichtet – und hier soll und wird in Zukunft der Handlunsgbedarf weiter steigen. Was auch heisst, dass die bestehende Bausubstanz immer öfter zur Diskussion steht. Sanieren und ausbauen? Oder abreissen und verdichtet neu bauen? Nun umfasst der Schweizer Baubestand rund 1,8 Millionen Gebäude, wobei fünf Prozent davon unter Schutz stehen, wie man in der Ausstellung im Heimatschutzzentrum in der Villa Patumbah im Zürcher Seefeld erfahren kann. Gleichzeitig datiert die grosse Mehrheit der heutigen Bausubstanz hierzulande aus der Zeit nach 1950, denn seither wurde mehr gebaut als vorher in allen Generationen zusammengenommen, und das seit den Römern.2 Um formal welche Bauten handelt es sich also, die (auch) zur Disposition stehen? Aus der Phase 1960 bis 1975 seien im Folgenden exemplarisch einige etwas genauer angeschaut.
Piuskirche, Meggen, Franz Füeg, 1964–66.
Technik
Scharfkantige Kuben ohne Dachvorsprung von unterschiedlicher Geschosszahl verteilen sich auf einem orthogonal strukturierten Gelände. Die Fassaden gleichmässig gerastert, mehrheitlich aus Stahl und Glas. So präsentiert sich die Kantonsschule in Baden (1958-64) von Fritz Haller, Vorreiter der Solothurner Schule. Oder die Piuskirche in Meggen von Franz Füeg: Ein streng orthogonal ausgerichtetes, flach eingedecktes Bauvolumen, dessen Flächen zwischen den Stützen mit transluziden Steinplatten ausgefacht sind. Es sind dies Bauten, die nach «wissenschaftlichen», damit nachvollziehbaren Kriterien wie etwa klar definierten Rasterabständen entworfen und errichtet sind. Hinter ihnen standen Architekten, die nichts dem Zufall oder einer «Laune» überlassen wollten – entsprechend sind ihre Werke logisch aufgebaut. Hierbei vertrauten sie primär der Technik. Sie war ihnen Mittel und Zweck zugleich. Vertreter dieser Haltung können als Technizisten bezeichnet werden – Bauten Mies van der Rohes dienten ihnen als zentrales Vorbild.
Musée International d'Horlogerie, La Chaux-de-Fonds, Pierre Zoelly & Georges-Jacques Haefeli, 1972–74
Pop Art
Nicht auf orthogonale Raster ausgerichtet wie die Technizisten, dennoch aber dem Fortschrittsglauben verpflichtet, waren die Vertreter einer Architektur, die bunt, rund, ja, «abgespaced» daherkommt. So etwa die Vitrinen im Musée International d'Hologerie von Pierre Zoelly und Georges-Jacques Haefeli. Auf silbern glänzenden Hälsen thronen Kapseln, deren obere Hälften verglast sind. Als Gegenstücke hängen Kugellampen von den Decken.
Oder die Geschäftshäuser Les Embassadeurs (1971) und Modissa (1973–75) an der Zürcher Bahnhofstrasse von Paul Steger respektive Werner Gantenbein. Beim Les Ambassadeurs prägen längliche, vertikal angeordnete, in den Ecken gerundete Fensterschlitze die fugenlose, bläulich gehaltene Stahlfassade. Es sind dies an die Pop Art erinnernde Elemente, lustvoll und unbeschwert; formal assoziieren lassen sich auch Raumfahrt und erste Mondlandung 1969. Anders, aber dennoch pop-artig – man denke etwa an Claes Oldenburg – erscheint ein Wohnhaus von Maurice Cailler und Pierre Merminod in Crans Montana, das im Massstab vergrössert und damit «aufgeblasen» wird.
Résidence Les Mischabels, Crans Montana, Maurice Cailler & Pierre Merminod, 1964
Plastiken oder «Höhlen»
Doch gab es auch eine fortschrittskritische Haltung. Jene Architeken interessierten sich mehr für überliefertes denn neu dazu gewonnenes Wissen. Ihre Recherchen galten der Tradition von Vorfahren und Ahnen und deren Bauwerken. Neben bekannten Hochkulturen wie Antike, Renaissance oder dem Mittelalter studierten sie jedoch ebenso «primitive» oder «prähistorische» Bauten. Es war eine Zeit, als die Kunst indigener Völker in den Galerien des Nordens gut vertreten war. Das Architektentrio Cramer, Jaray, Paillard beispielsweise baute beim Stadttheater St. Gallen als zentrales Foyer und Pausenhalle eine Art Höhle. Einen vom Eindruck gerundeten Raum, wobei sich auch die Decke vom Zentrum gegen aussen nach unten wölbt und damit den Eindruck einer Höhle verstärkt. Hier sind die Fenster zudem nicht gleichmässig über die Fassaden verteilt. Vielmehr setzten die Architekten punktuelle Öffnungen, die das Tageslicht gezielt ins Rauminnere führen und es nicht diffus verteilen. Im Gegensatz zu den Technizisten sind dies Kulturalisten. Ihnen waren Bauten aus der brutalistischen Phase Le Corbusiers zentrale Vorbilder.
Stadttheater St. Gallen, Cramer, Jaray, Paillard, 1964–68
Gespiegelt in den Fachzeitschriften
Nun ist es interessant zu sehen, dass sich in der Schweizer Fachzeitschriftenlandschaft jener Jahre Technizisten und Kulturalisten gewissermassen gegenüber standen. So schrieb 1960 Benedikt Huber, damaliger Redaktor des Werk, an seinen Kollegen Franz Füeg von Bauen + Wohnen (damals zwei getrennte Organe): «Das flache Dach, die unsichtbare Konstruktion, Stahl und Glas, die Präzision im Detail und der rechte Winkel sind einige Merkmale […], sie haben Ihrer Zeitschrift den berechtigten Ruf des kompromisslosen Modernen eingetragen. Demgegenüber habe ich in meinen Kommentaren verschiedentlich versucht, moderne Glasfassaden in Scherben zu schlagen, Hochhäuser und Gute Formen anzuzweifeln und Bauten des 19. Jahrhunderts schön zu finden.»3 Die von Huber angesprochene Reverenz gegenüber dem 19. Jahrhundert, ja, generell gegenüber der Geschichte, sollte sich ab Ende der 1970er-Jahre in der Postmoderne entladen, etwa der Tessiner Tendenza. Nachdem diese abgeklungen war, wurden die Gebäude wieder einheitlicher, disziplinierter, wenn auch nicht nur in Stahl/Glas. Eine Haltung, die mehrheitlich bis heute anhält. Doch davon vielleicht einmal später.