Die Energiewende und wir
Manuel Pestalozzi
16. marzo 2017
Ein «Leuchtturm» im Stadtkörper. Das sanierte und aufgestockte Eckhaus Hofwiesenstrasse/Rothstrasse in Zürich hat eine rundum homogen erscheinende Photovoltaikhaut. Sie verwandelt Sonnenlicht in elektrischen Strom. Ein Beitrag des ortsansässigen Architekten Karl Viridén an die Energiewende. Bild: Manuel Pestalozzi
Erzeugung, Distribution und Verbrauch von Energie ist als gesellschaftliches Megathema ein Dauerbrenner. Demnächst darf die Schweiz darüber abstimmen. Wo stehen Architektinnen und Architekten?
Ohne Zweifel erzeugt Architektur ein «wir-Gefühl»; Bauten sind ein gemeinsamer Nenner, der Menschen zusammenbringt, oft freiwillig, manchmal auch nicht. Der geteilte Erfahrungsschatz mit ihnen ist identitätsstiftend und setzt nicht selten den Takt für die Liebe oder auch den Hass. Und wie steht es mit der Energie? Der Umgang mit ihr ist ab einer bestimmten Quantität ebenfalls eine gemeinschaftsbildende Aufgabe, schliesslich können Einzelpersonen alleine physisch nicht viel ausrichten. Daraus könnte man schliessen, es gebe eine Verwandtschaft zwischen Architektur und Energie. Eigentlich müsste sie auch Soziologinnen und Soziologen interessieren. Anders als die Architektur steckt der Energiebereich aktuell in einer Phase des Umbruchs, die man ohne Umschweife revolutionär nennen kann; die Märkte spielen verrückt, ganze Strukturen sind infrage gestellt.
Die Moderne wäre unmöglich gewesen ohne die zuverlässige, effiziente Erschliessung von Energiequellen mit einer Ausbeute, die im Tagesrhythmus die Kraft von hunderttausend Pferden und Ochsen oder den Brennwert von grossflächigen Waldstücken um das x-Fache übertrifft. Aus der Natur gewonnene und kanalisierte Kräfte ermöglichten es erst, bekannte mechanische oder thermo-physikalische Gesetze so richtig zu nutzen und die verfügbar gemachte Energie in den Dienst der Menschheit zu stellen. Für die Architektur hiess das nicht zuletzt: traditionelle und neue, in der Herstellung energieaufwendige Baustoffe wie Zement oder Stahl als Massenware, und Elemente die sich auch aus grösseren Distanzen zu vertretbaren Kosten auf den Bauplatz karren lassen.
Energiegewinnung als Symbol der Gemeinschaft und Teil des Landschaftsbilds. Was im Kommunismus eine Selbstverständlichkeit und identitässtiftend war, wird hierzulande verschämt versteckt. Bild: Wikimedia Commons
Wir wollen jetzt sauber sein
Die Förderung und der Transport von Energie bedingt tiefe Eingriffe in die Natur, die Energiewirtschaft gehört zu den vorrangigen Landschaftsgestaltern der Neuzeit. Graben, pumpen, stauen, baggern, transformieren, übermitteln – alle diese Tätigkeiten modellieren die Erdkruste mit und geben ihr da und dort eine neue, oft spektakuläre Gestalt. Manchmal zeichnen sie sich ab am Horizont und erinnern mit Masten oder Schloten emblematisch daran, dass die moderne Gesellschaft in das Netz einer steten und zuverlässigen Energieversorgung verstrickt ist.
Kaum hatte sich die Gesellschaft an diese neuen Segnungen aus der Natur gewöhnt, verdüsterte sich allerdings der Horizont: Ziemlich schnell zeigte sich die Schattenseite des modernen Energiekonsums – und zwar wortwörtlich: Russ und Schmutz trübten den Himmel. Der legendäre Londoner Nebel gab nicht nur Jack The Ripper Deckung, er belastete die Bronchien der Stadtbewohnerinnen und -bewohner. Energie ja – aber sauber, lautet seither die Devise, für die Wissenschaft und Technik kämpfen. Seit breiten Schichten bewusst ist, dass nicht nur die ausatmende Fauna, sondern auch die Verbrennung fossiler Energiereserven massenhaft CO2 in die Atmosphäre freisetzt, ist die Sorge um die Luftqualität und die Folgen ihrer «Verschlechterung» aus der öffentlichen Debatte nicht mehr wegzudenken.
Kein Kamin, sonnenempfindliche Oberflächen und die gütige Hilfe konventioneller Helikopter. Die Neue Monte-Rosa-Hütte von SAC und ETH, fertiggestellt 2009, ist ein energetisches Autarkie-Experiment mit fassadenintegrierter Photovoltaik. Das Projekt ist ein bildhaftes Symbol für die Architektur als effiziente energetische Selbstversorgerin. Bild: Manuel Pestalozzi
Haus als Kraftwerk
Wie bereits erwähnt, war die moderne Architektur Nutzniesserin der leichten Verfügbarkeit grosser Mengen von Energie: Das neue Angebot moderner und ortsfremder Materialien und Bauelementen vergrösserte die gestalterische Freiheit. Das Energiemanagement des fertigen und genutzten Bauwerks hatte bei der Gestaltung über lange Zeit keine hohe Priorität. Es galt wohl schon in der Vormoderne als Spezialistensache jenseits architektonischer Grundanliegen. Anstatt wie einst mit dem Hafner sprach sich das Planungsteam fortan mit Haustechnikern ab, welche die Raumbedürfnisse für ihre Geräte und Verteilnetze bekannt gaben. Ziemlich passiv machte die Architektur die Tendenz zu einer fortschreitenden Zentralisierung der Versorgung mit: Der Übergang von den Zimmeröfen zur Zentralheizung zum lokalen Fernwärme- oder Gasverteilungsnetz hatte zwar zur Folge, dass immer weniger Kamine einzuplanen waren, ansonsten gehörte diese technische Entwicklung aber nie zu den grossen Diskussionsthemen in Architekturforen.
So trifft die heutige Energiewende auf eine weitgehend unvorbereitete oder sich wenig zuständig fühlende Berufsgruppe. Wende heisst hier: Weg von fossilen – also «dreckigen»– Energieträgern, weg von der Abhängigkeit von deren Förderstaaten, hin zu möglichst «heimatlichen» erneuerbaren Energien; weg vom Atomstrom und seinen Risiken; mehr Sparsamkeit und Effizienz im Betrieb; Änderungen im individuellen Verhalten. Diese Forderungen haben einen fundamentalen Charakter und beschäftigen die Allgemeinheit teilweise schon seit Jahrzehnten. Neu und architekturrelevant sind aber damit verbundene Konzepte bei der Erzeugung, der Speicherung und der Distribution von Energie. In diesem Bereich findet aktuell tatsächlich ein Umbruch statt. Bei der genannten Tendenz zur Zentralisierung der Energieversorgung wird nun Gegensteuer gegeben; auch Kleinsteinheiten können Energie erzeugen. Zudem verwischt sich die Grenzen zwischen jenen Instanzen, die Energie produzieren und jenen, die sie konsumieren. Im Gebäudebereich ist dieser Vorgang eng verbunden mit der Hoffnung, Häuser dank Photovoltaikmodulen zu Kraftwerken zu machen. Diese Zusatzaufgabe, die man der Architektur überantworten will, ist von epochaler Bedeutung.
Energetische Autarkie in der Agglomeration. Mit diesem Ziel wurde in Brütten/ZH das «erste Mehrfamilienhaus der Welt, das ohne externen Anschluss für Strom, Öl und Erdgas auskommt» realisiert. Geplant wurde der 2015 bezogene Bau von den René Schmid Architekten, Zürich. Bild: Manuel Pestalozzi
Orientierungsschwierigkeiten
Architektinnen und Architekten, die sich mit dem Haus als Kraftwerk befassen möchten, das Thema Energie aber nicht als «Alleinstellungsmerkmal» ihres Büros sehen und sich entsprechend in die Materie vertiefen, dürften es aktuell schwer haben, sich einen Entscheidungsspielraum zu verschaffen. Im Zusammenhang mit der Produktion, Speicherung und Verwendung der am Bau erzeugten Energie gibt es aktuell keine Standardvorgehen und auch keine vertrauten Partnerschaftsmodelle für Planungsteams. Es ist aktuell auch nicht möglich, solche in Aussicht zu stellen, da sich diesbezüglich die gesamte Baubranche aktuell im Umbruch und in einer Pionierphase befindet.
Im Zentrum der entsprechenden Bemühungen steht stets die Photovoltaik und die Frage, wie stark die Energieerzeugung in die Gebäudehülle integriert werden soll. Manche sehen in diesem Bereich eine zukunftsfähige Fusion von Architektur und dezentrale Stromerzeugung. Aber wer lebt und wirkt gern in einer rundum verkabelten, unter Strom stehenden Schale? Le Corbusier hat sich unter einer machine à habiter etwas ganz anderes vorgestellt. Allerdings mag bei mancher Bauherrschaft der Wunsch, sich als «Prosumer» im Markt zu positionieren grösser sein als der Zweifel an der neuen Doppelrolle von Liegenschaften. Dann wird sich vermutlich zeigen, dass Gespräche und die Suche nach tauglichen Mitstreiterinnen und -streiter vonseiten der Technik unabdingbar sind.
Spaghetti in der Aussenwand. Beim «Leuchtturm» in Zürich muss die von den Photovoltaik-Fassadenmodulen erzeugte Energie gesammelt und an den Wechselrichter weitergeleitet werden. Bild: Manuel Pestalozzi
Ja sagen, heisst das Gebot der Stunde
Das aktualisierte Energiegesetz (EnG) vom 30. September 2016 fördert unter anderem die Idee des Hauses als Kraftwerk. Es verkörpert den Konsens des Parlaments zur Energiewende und enthält mitunter den Auftrag an die Behörde, den Übergang zu erneuerbaren Energien und die Steigerung der Effizienz im Verbrauch zu voranzutreiben und zu unterstützen, auch in finanzieller Hinsicht. Die SVP ergriff erfolgreich das Referendum, aus einem Sammelsurium an ökonomischen und weltanschaulichen Gründen. Deshalb hat das Stimmvolk am 21. Mai 2017 die Gelegenheit, über das EnG abzustimmen. Ein Ja würde signalisieren, dass man den Weg der Energiewende, auf den sich die Schweiz bereits gemacht hat, fortsetzt. Da es sich um eine gesellschaftliche, von der Nation zu verantwortende Aufgabe handelt, erscheint ein Abweichen von fundamentalen liberalen Grundsätzen, welche die Gegnerseite bemängelt, vertretbar.
Man kann die Energiewende vergleichen mit einem Tunnelprojekt, das durchs Gebirge der gesellschaftlichen Bedürfnisse getrieben wird. Im Tunnel ist es dunkel, und es besteht die Gefahr, dass man auf bisher unbekannte Problemformationen stösst, die nach Sondermassnahmen oder einer Routenkorrektur verlangen. Aber mit Umsicht, Intelligenz und Durchhaltewillen geht es weiter. Die Alternative bestände bei dieser Analogie darin, auf den Tunnel zu verzichten, mit Dreckschleudern stetig durchs Gebirge zu fliegen oder zu knattern – bis die Atmosphäre und das Klima sich spürbar verändert haben und die Spritreserven alle sind. Der Architektur-Zusatzfunktion Kraftwerk muss man bei allen Zweifeln einen visionären Zukunftscharakter zuerkennen, sie könnte einen wertvollen Beitrag an die Energieversorgung von morgen leisten.