Das Beben als Gelegenheit, die Stadt zu verstehen

Susanna Koeberle
16. noviembre 2017
Viele der beschädigten Bauten wurden evakuiert. Bild: sk

Alles beginnt mit einem WhatsApp-Chat, gestartet durch den mexikanischen Architekten Mauricio Rocha. Sein Inhalt: die Angst um Mexikos architektonisches Erbe. Doch der Reihe nach. Am 7. September erschüttert ein Erdbeben der Stärke 8,1 den Süden von Mexiko. Nebst der beachtlichen Anzahl Toter spielt sich kurz nach dem Beben eine weitere Tragödie ab. Viele der beschädigten Gebäude werden präventiv abgerissen. Einige stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, davon zählen  einzelne sogar zum Unesco-Welterbe. Einer der Gründe für diese postseismische Zerstörungswut besteht für Rocha in der Unsicherheit, die sich in der ländlichen Bevölkerung breitmacht, denn das Beben richtete nebst den materiellen vor allem auch psychische Schäden an. Die Leute haben Angst in ihre Häuser zurückzukehren.

Maurico Rocha kann nicht zuschauen, er will handeln. Gut in der Szene vernetzt, startet er einen Chat mit einem dringenden Aufruf an seine Kollegen, die betroffene Gegend zu besuchen, vor Ort Analysen zu erstellen und dann zu informieren. Es muss eine Alternative geben zum radikalen Abbruch dieser Bauten. Denn mit den Häusern zerstöre man auch Erinnerung, Kultur, Identität, so sein Gedanke. Doch dann geschieht das Unerwartete. Am 19. September, kaum zwei Wochen nach der ersten Katastrophe, gibt es ein weiteres Beben; diesmal liegt das Epizentrum südlich von Mexico City in Puebla. Ironie des Schicksals: Es ist der Jahrestag eines der schwersten Beben in der Geschichte Mexikos. Am 19. September 1985 bebte die Erde heftig, Tausende Menschen verloren damals ihr Leben, ganze Quartiere der Hauptstadt wurden dem Erdboden gleichgemacht.

​Und nun wird knapp zwei Stunden nach der jährlich stattfindenden Schutzübung Mexico City erneut von einem Beben der Stärke 7,1 erschüttert. Das Resultat: Allein in der Stadt kollabieren um die 80 Häuser. Schlimm genug, denn dort werden viele Menschen unter den Trümmern begraben. Zudem werden fast 200 Bauten durch das Beben so stark beschädigt, dass die Bewohner evakuiert werden müssen. Die meisten finden bei Verwandten Unterschlupf, doch wie es weiter geht, weiss niemand. Wann kann man in sein Haus zurück? Wird man es überhaupt je wieder können? Das Beben hat nicht nur in den Häusern seine Risse hinterlassen, sondern vor allem bei den einzelnen Existenzen.

Erarbeiten von Strategien
Nun kommt die Initiative ReConstruir México erst richtig in Fahrt. In kurzer Zeit schliessen sich viele Architekturbüros der Bewegung an, auch Künstler, Institutionen und Spezialisten aller Art wollen helfen, Teil davon sein. Die Solidaritätswelle widerspiegelt auch die Haltung der Bevölkerung, denn überall wird geholfen, die Stadt steht aber zugleich unter Schock. Es finden erste Treffen statt, eine Agenda von sechs wichtigen Punkten wird erstellt, elf thematische Arbeitsgruppen werden gegründet. Die wesentlichen Punkte betreffen eine genaue Diagnose der Schäden sowie der verwendeten Materialien: Welche entsprechen nicht den Gesetzen, welche kann man allenfalls wiederverwenden? Weiter geht es darum, spezifische, auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittene Strategien zu entwickeln. Dabei werden vor allem die Unterschiede zwischen Stadt und Land in den Fokus genommen. Auch das Erstellen von Notunterkünften ist eine der Aufgaben, der sich das Kollektiv verschrieben hat. Je nach Expertise der Beteiligten werden diese in unterschiedliche Arbeitsgruppen eingeteilt. Noch ist die Koordination der Aktivitäten ein zentrales Thema. Es wird sich erst im Verlauf der Zeit zeigen, wie gut diese Netzwerke funktionieren.

​Wir treffen zwei Wochen nach Beginn der Bewegung die Architektin Gabriela Carrillo, Büro-Partnerin von Rocha, zum Gespräch. Carrillo empfängt in ihrem Büro. Ihre herzliche Art täuscht über ihre Erschöpfung hinweg. Das Wort Freizeit kennt die junge Mutter seit einigen Wochen nicht mehr, sie arbeitet rund um die Uhr. «Wir sind müde», gibt sie zu, «aber dieses Beben ist auch eine Gelegenheit, die Stadt neu zu denken», erklärt sie. Ein erster Schritt bestehe in einer Kartographie der Schäden. Die Gruppe stützt sich dabei auf Daten, die von Freiwilligen gesammelt werden. Es geht in erster Linie um eine Inventarisierung des Desasters, dann soll eine Analyse folgen. «Die Gründe für die Schäden sind vielfältig. Häufig sind es neuere Häuser, die hier in Mexico City beschädigt sind, etwa Bauten aus Beton, die zu schwer sind und deswegen beim Beben einstürzten. Wir brauchen aber Zeit, um die Dinge genau zu verstehen», sagt sie.

Die gelben Bänder zeigen an, dass das Haus evakuiert wurde. Bild: sk

In den stark betroffenen Quartieren Condessa und La Roma etwa entstand nach dem Beben von 1985 eine regelrechte Bauwut, die Preise pro Quadratmeter  stiegen daraufhin rasant an. Viele Galerien und In-places befinden sich heute in diesen Gegenden. Das Echo auf die Ereignisse ist dementsprechend gross. Die Geschichte soll sich hier nicht nochmals wiederholen. Doch so sehr das Projekt ReConstruir México versucht, einen längerfristigen Prozess zu initiieren, mit dem Ziel, solche Baufehler nicht zu wiederholen, die Architekten sind zum schnellen Handeln gewzungen. Denn bereits werden auch in der Hauptstadt Häuser abgebrochen. «Diese liessen sich durch provisorische Gerüste stützen und später sanieren. Das Erstellen solcher Gerüste ist eines unserer nächsten Ziele», erläutert Carrillo. Es geht dabei um eine andere Form des Sichtbarmachens der Schäden. Während die gelben Crime-Scene-Bänder mit der Aufschrift prohibido (verboten), die man in der Stadt allerorten sieht, tendenziell Angst auslösen, stehen die Holzgerüste für ein Umdenken und für Respekt gegenüber den Bauten. Die Regierung selber ist überfordert mit solch feinen Unterscheidungen, man will zwar helfen, aber wählt den simpelsten Weg – einheitliche Patentrezepte statt lokale und gezielte Hilfeleistung. Dabei wären Information und detaillierte Analysen zentral, um eine Veränderung zu bewirken.

«Wir sehen uns als Teil der Zivilbevölkerung, wir sind keine Bewegung mit Partikularinteressen, die wir danach politisch ausschlachten. Wir wollen auch nicht mit anderen Hilfswerken in Konkurrenz treten, sondern vernetzen und Brücken zwischen den Organisationen bauen», rechtfertigt sich Carrillo vorauseilend für ihr Engagement. In der Stadt haben sich verschiedene Gruppen formiert. Im Rahmen der Design Week Mexico, begegnen wir einem jungen Architekten, der nicht Teil von ReConstruir ist. Die Bewegung sei ihm mittlerweile zu unübersichtlich geworden. Doch auch er sieht Bedarf  in der Dokumentation des Geschehenen. Zusammen mit einer kleinen Gruppe Architekturfotografen hält er die Schäden in Bildern fest. Wenn ich auf unserem Rundgang durch das Quartier mit Entsetzen auf einen Riss zeige, bleibt er cool und meint, das seien bloss oberflächliche Schäden, keine in der Gebäudestruktur. Einzelne Strassenzüge sind zwar abgesperrt, aber ansonsten fühlt sich das Leben in der vibrierenden Hauptstadt ziemlich normal an.

Sind diese neu entstandenen Bewegungen blinder Aktionismus? Sie als solche abzutun, wäre zynisch, denn die Aktivitäten widerspiegeln den Wunsch der Bevölkerung nach Veränderung. Klar, man kann auch wegschauen und wie gehabt weitermachen. Doch sich selbständig zu organisieren und aktiv zu werden, heisst für ReConstruir Prozesse in Gang zu bringen. Für Carrillo besteht die Stärke von ReConstruir darin, in und mit der Stadt zu arbeiten, ganz direkt auf die Bewohner der Häuser zuzugehen, sich mit ihnen auszutauschen. Häuser sind eben nicht einfach tote Materie, sie sind Teil des lebendigen Organismus Stadt. «Architektur ist wie ein Marathon», meint sie am Schluss unseres Gesprächs,  «aber wir müssen wieder lernen, richtig zu atmen».

Die Stützen sichern das Gebäude provisorisch. Bild: sk

Dieser Artikel erschien in veränderter und verkürzter Form in der NZZ vom 23. Oktober 2017.

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