10 Jahre KraftWerk1 in Zürich – wohnen, forschen, entwickeln
Andreas Hofer
2. mayo 2011
KraftWerk2 mit Clusterwohnungen, Architekturbüro Adrian Streich
Eine Bilanz von Andreas Hofer, Mitbegründer der Genossenschaft KraftWerk1 und Entwickler weiterer KraftWerk-Projekte.
Das Projekt der Bau- und Wohngenossenschaft KraftWerk1 an der Hardturmstrasse in Zürich West feiert 2011 sein zehnjähriges Jubiläum. Das vielbeachtete Projekt, das durchaus ein frühes Flaggschiff nachhaltigen Bauens genannt werden kann, zeichnet sich durch ein vielfältiges Wohnungsangebot vom Atelier bis zur Grosswohngemeinschaft aus. Dieser Wohnungsmix entstand seinerzeit aus der Frustration über einen stereotypen Immobilienmarkt heraus, der mit seinen «Familienwohnungen» immer weniger den gesellschaftlichen Verhältnissen entsprach. Die von KraftWerk1 mit grossem Diskussions- und Denkaufwand geschaffenen komplexen Strukturen haben sich im Wesentlichen bewährt. Die Bewohnerschaft ist breit durchmischt, und es gibt eine auffallend hohe interne Fluktuation. Bei sich ändernden Familien- oder Lebensumständen kann durch einen internen Umzug die Wohnung den neuen Bedingungen angepasst werden. Die Erfahrungen im KraftWerk1 und ein steter Austausch zwischen KraftWerk1, wissenschaftlichen Instituten und vergleichbaren Projekten im In- und Ausland – so evaluierte das ETH Wohnforum im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen das KraftWerk1 nach dem Einzug; weiter wurde KraftWerk1 an unzähligen Konferenzen als Beispiel für gemeinschaftliches Wohnen und nachhaltige Quartierentwicklung vorgestellt – haben zu einem grossen Wissen über Wohnformen und Wohntypologien geführt und das Bewusstsein gestärkt, dass im Wohnungsbau noch vieles ausprobiert und entwickelt werden kann.
Das bereits im Namen angelegte Wachstum der Genossenschaft – KraftWerk1 – bereiteten verschiedene Workshops im Jahre 2005 vor. Hier diskutierten Interessierte über mögliche Standorte, Zielsetzungen und Aufgaben für weitere Projekte. Dabei wurde schnell klar, dass sich die Situation in der Stadt Zürich und insbesondere im äusseren Kreis 5 seit der Jahrtausendwende grundlegend verändert hatte. Die Stadt blüht, der Immobiliendruck ist gross, der stetige Verlust von Wohnbevölkerung seit den frühen 1960er-Jahren hat sich in Wachstum umgekehrt. Die beim KraftWerk1 erfolgreich angewandte Strategie, einen schwierigen Standort mit starken Konzepten und dem Aufbau von Infrastrukturen zu erschliessen und aufzuwerten, vergrösserte den Radius der Arealsuche an den Rand der Stadt.
KraftWerk4 auf dem Zwicky-Areal in Dübendorf, eine Überbauung mit über 300 Wohnungen, Gewerbeflächen und Quartierinfrastruktur, Architektubüro Schneider Studer Primas
KraftWerk2 – Altbauten nutzen, für ältere Menschen bauenEin erster Wachstumsschritt gelang mit dem Kauf von zwei Gebäuden der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime zkj im Rütihof in Zürich Höngg im Jahre 2008. KraftWerk2 ist zurzeit im Bau, der Bezug ist auf Anfang 2012 geplant. Das Projekt in einem etablierten Wohnquartier am Stadtrand stellte ganz andere Anforderungen als eine Umnutzung in einem dichten Industriegebiet.
Die zu Beginn der 1970er-Jahre gebauten Häuser (damals mit dem Preis «Gute Bauten der Stadt Zürich» ausgezeichnet) sind Teil eines grösseren Ensembles. Sie wurden als Wohnhäuser für Gruppen von Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen genutzt. Im Rahmen einer baulichen Sanierung der ganzen Anlage und betrieblicher Überprüfungen beschloss die Stiftung zkj, einen Teil des Areales im Baurecht abzugeben. Für diese Häuser bestand ein Sanierungsprojekt für eine Umnutzung in Wohnbauten. Im Rahmen des Bewerbungsverfahrens stellte KraftWerk1 fest, dass das Areal erhebliche Ausnutzungsreserven hat. Eine teilweise Nutzung dieser Reserven versprach ein wirtschaftlich attraktiveres Projekt und erlaubte auch einen höheren Baurechtszins. Obwohl dieses Angebot einen planerischen Neubeginn auslöste, entschied sich die zkj für eine Baurechtsvergabe an KraftWerk1. Parallel zu den Vertragsverhandlungen überprüfte KraftWerk1 die Machbarkeit von Erweiterungen (Anbauten, Aufstockungen) der bestehenden Gebäude und löste einen partizipativen Prozess mit Interessierten aus. Und obwohl die Aussicht auf eine Wohnung in weiter Ferne lag, beteiligte sich eine etwa dreissigköpfige Gruppe an der Erarbeitung der Wohnkonzepte, dem Raumprogramm und der Diskussion über gemeinschaftliche Projekte und Formen des Zusammenlebens.
In diesen Workshops wuchs das Thema des Projekts: Welche Wohnformen eignen sich besonders für ältere Menschen, wie lässt sich in einem intergenerationellen Projekt die Selbständigkeit der Älteren möglichst lange stützen und somit aufrecht erhalten? Als räumliches Resultat dieser Diskussionen entstand die Clusterwohnung. Diese bereits in anderen Projekten – etwa im Ende 2010 bezogenen Projekt Kanzleistrasse der Gesewo in Winterthur von Haerle Hubacher Architekten – entwickelte Wohnform verbindet mehrere kleinere Einheiten mit einem bis zu drei Zimmern, dazugehöriger Nasszelle und minimaler Kochinfrastruktur, die so genannten Clusters, über einen gemeinschaftlichen Raum mit grosser Küche, behindertengängigem Bad und weiteren Räumen, wie Gästezimmer, Büro oder Fernsehnische, zu einer Grosswohneinheit. Im KraftWerk2 wird es zwei dieser etwa 320 Quadratmeter grossen Wohneinheiten geben. Weitere zwei Grosswohnungen sind «klassische» Wohngemeinschaften. Der Rest der insgesamt etwa 25 Wohnungen sind Klein- bis Familienwohnungen. Im Projekt werden ungefähr 80 Menschen leben.
In einem Studienauftrag suchten fünf eingeladene Architekturteams nach einer baulichen Umsetzung dieser Vorgaben. Das Architekturbüro Adrian Streich gewann die Konkurrenz mit dem radikalen Vorschlag, die bestehenden Bauten mit einem Zwischenbau zu einem grossen Haus zu verbinden. Diese Strategie erlaubt die Anpassung an neue Standards (Zugänglichkeit für Behinderte, Erdbebensicherheit, technische Ausstattung) im Neubauteil und nutzt den Bestand als räumliche Erweiterung mit beschränkten Eingriffen.
Eine weitere Erfindung im Projekt KraftWerk2 – neben der Clusterwohnung – ist die Neuinterpretation und Verdichtung von Altbausubstanz durch die Verschränkung mit Neubauteilen. Sie ermöglicht den Erhalt einer erst vierzigjährigen Bausubstanz. Eine ernüchternde Erkenntnis ist allerdings, dass, im Vergleich mit einem kompletten Neubau, diese Strategie ökonomisch nur kleine Einsparungen bringt. Eine definitive Bewertung wird erst nach Abschluss des Projekts möglich sein – etwa über den Vergleich des erreichten Energie- und Komfortniveaus (Minergie Neubaustandard über das ganze Volumen), der Bilanz der grauen Energie und der detaillierten Kosten.
Kraftwerk4, Grundrisse Erdgeschoss und Regelgeschoss, Architektubüro Schneider Studer Primas
Kraftwerk4, Grundrisse Erdgeschoss und Regelgeschoss, Architektubüro Schneider Studer Primas
KraftWerk4 – Mothers of Invention*Mit KraftWerk4 gelingt hoffentlich der Sprung in die Pionierlandschaft des angebrochenen Jahrzehnts, in die Glattalstadt. Gleichzeitig hat dieses Projekt die Dimension eines Quartiers und es beweist, dass die angewandte Stadtforschung der Genossenschaft breit anerkannt und als Ideenquelle genutzt wird. Seit dem Jahre 2009 entwickelt KraftWerk1 gemeinsam mit der Immobilienberatungsfirma Wüest&Partner und der Generalunternehmung Senn BPM ein Baufeld auf dem Zwicky-Areal in Dübendorf. An einer Generalversammlung stimmte die Basis der Genossenschaft im Frühling 2011 den Eckpunkten eines Totalunternehmervertrages und dem Landkauf zu. 2015 könnte die Überbauung mit über 300 Wohnungen, Gewerbeflächen und Quartierinfrastruktur, von der die Genossenschaft etwa die Hälfte übernehmen will, bezugsbereit sein.
Ein rauhes Umfeld mit S-Bahnviadukt, verkehrsreichen Strassen und die Insellage zwischen diesen Infrastrukturen, dem Chriesbach und der Glatt, stellen die Frage nach der Wohnqualität, der Quartieridentität, der Dichte und den baulichen Strukturen auf eine grundsätzliche Weise. Das Wettbewerbsprogramm für den Studienauftrag (fünf Teams waren eingeladen) war knapp und liess vieles offen. Denn es geht hier nicht um das «Abfüllen» von Volumen mit einer prozentual vorgegebenen Mischung von Wohnungsgrössen, sondern um eine urbane Idee des Wohnens und Arbeitens. Diese lieferte auf überzeugende Weise das Zürcher Architektubüro Schneider Studer Primas.
Das Projekt mit dem Kennwort «Mothers of Invention» thematisiert das Bild eines neu gebauten Industrieareals – wobei es nicht um Industrieromantik geht, sondern um die unmittelbare Konfrontation unterschiedlicher Typologien, die Unterschiedliches leisten und letztlich wieder zu einem komplexen Ganzen zusammenwachsen müssen. Es schlägt Scheiben vor, dünne hohe Strukturen, welche an den Rändern die Lärmproblematik lösen, indem alle Räume gegen die ruhige innere Seite gelüftet werden können. Im Lärmschatten der Scheiben liegen die Blocks. Riesige Gebäude, welche Wohnungen, Gewerbeflächen und eine Mischung dieser Funktionen aufnehmen können. Den Boden des gesamten Areals besetzen Hallen, die den Aussenraum zu Gassen verdichten. Deren Dächer können zu Terrassen werden, günstige Gewerbeflächen aufnehmen, aber auch 30 Meter tiefe Reihenhäuser oder Wohngemeinschaften beherbergen.
Im soeben gestarteten partizipativen Prozess sollen diese Strukturen nun differenziert und mit Wohnideen gefüllt werden. Wenn die übergeordnete Revision eines Gestaltungsplans per Ende Jahr termingerecht rechtskräftig wird, kann Anfang 2012 die Baueingabe erfolgen.
* Das Projekt KraftWerk3 war der Versuch, ganz in der Nähe der Stammsiedlung KraftWerk1 am Turbinenplatz im Rahmen eines grösseren Projekts einen Wohnteil mit rund 50 Wohnungen zu realisieren. Dieses Projekt musste zu Beginn des Jahres 2011 aufgegeben werden.