Wohl und Weh

Elias Baumgarten
2. diciembre 2019
Foto: NFS Digitale Fabrikation

Die Digitalisierung ist ein Prozess, der – auch in der Bauwirtschaft – schon lange im Laufen ist. In unserer Disziplin hat er vor über drei Dekaden mit der Einführung der ersten CAD-Programme begonnen. Seither hat sich viel getan: Es gibt Roboter, die physische Modelle abtasten und digitalisieren können. Andere sind in der Lage, zu mauern oder Bewehrungselemente zusammenzusetzen. Parametrische Entwurfsmethoden werden seit Jahren von einigen Pionieren eingesetzt und teils unterrichtet – an manchen ausländischen Hochschulen, etwa in unserem Nachbarland Österreich, aber auch in Grossbritannien oder den Vereinigten Staaten, sogar schwerpunktmässig. Und auch Design-to-Production, die Fertigung direkt auf Basis der Daten aus dem digitalen Modell, ist keine ferne Zukunftsvision mehr; Schweizer Firmen bieten teils schon seit Mitte der 2000er-Jahre entsprechende Möglichkeiten. Doch ist die Baubranche als Ganzes zugleich noch immer eine der am wenigsten digitalisierten überhaupt; in der grossen Mehrheit unserer Büros wird auch heute noch recht analog gearbeitet. Nur: Wie lange noch? Denn die technische Entwicklung wird fortwährend schneller und auch der Druck von aussen steigt. So wird etwa die Verwendung von BIM (Building Information Modeling) schon 2021 obligatorisch bei allen Hochbauten des Bundes und ihm naher Unternehmen. Wettbewerbs- und Projekteingaben müssen dann zwingend als BIM-Modell erfolgen.

Aus dem digitalen Wandel resultiert ein ganzes Bündel von Grundsatzfragen, die danach drängen, diskutiert zu werden. Für die Architektenschaft ist immens wichtig, hier mitzusprechen. Es braucht Gestalter*innen, die sich glänzend auskennen und offensiv einmischen. Und so wurde am 22. November bei der Empa über eine digitale Baukultur debattiert. Nach Dübendorf eingeladen hatten der BSA und die CRB. Im Fokus stand die Entwurfsarbeit. Diskutiert wurde offen und konstruktiv, für Angstmache wie vollmundige Werbeversprechen war kein Platz.

Foto: Roman Keller
Lernprozesse und offene Grundsatzfragen

Vormittags diskutierten Anne Kaestle (Duplex Architekten), Rolf Seiler (LRS architects), Stefan Oeschger (JOM Architekten) und Daniel Krieg (Burkhard Meyer Architekten) ihre Erfahrungen mit BIM. Alle zeigten sich offen gegenüber dem neuen Werkzeug, das ihre Büros schon einsetzen, und auch der BIM-Methode. Deutlich wurde, dass die neue Technik durchaus als Chance verstanden wird, verlorenen Einfluss im Planungsprozess zurückzugewinnen. Allerdings kamen auch einige hinlänglich bekannte, doch noch immer ungelöste Probleme zur Sprache. So bereitet Kopfzerbrechen, wann welche Informationen und welcher Detaillierungsgrad erforderlich sind. Kaestle meinte, aus ihrer Erfahrung bestehe die Gefahr, sich in Kleinigkeiten zu verlieren und frühzeitig Fragen zu diskutieren, die erst viel später relevant seien. Und oft wünschten auch Bauherrschaften zu viele Informationen.

Die Anwendung von BIM verspricht, sequenzielle Arbeitsabläufe aufzubrechen und ein engeres Zusammenwirken aller an Planung und Bau Beteiligten (BIM-Methode). Dies wird einschneidende Änderungen mit sich bringen, Stefan Cadosch, Präsident des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA), sagte schon voriges Jahr: «Die Phasenaufwände werden sich ändern, ebenso die Honorierung.» Es ist dies ein überaus sensibles Thema, weil die niedrigen Honorare für Schweizer Architekt*innen ein grosses Problem darstellen, wie Cadosch an der Tagung unterstrich, das dringend behoben werden muss. 

Und wer wird beim neuen Planungsprozess den Lead übernehmen? Wer wird moderieren und alle Teilnehmer*innen koordinieren? Generalistisch ausgebildete Architekt*innen scheinen hierfür prädestiniert. Doch sorgen sie sich zu Recht um juristische Fragen der Haftung und auch des Urheberrechts, die laut Anwalt Thomas Braun noch keineswegs geklärt sind. Wer ist zum Beispiel in der Verantwortung, wenn es zu Fehlern am gemeinsamen Modell kommt? Lassen sich die Verursacher überhaupt ausfindig machen? Auch müssen Architekt*innen ständig auf der Hut sein vor jensten Konkurrenten, die ebenfalls diese Schlüsselposition beanspruchen und sich ein grösseres Stück vom Wertschöpfungskuchen abschneiden wollen.

Interessant war ferner zu erfahren, dass Schweizer Büros eher für Wettbewerbe unter Anwendung von BIM zu haben sind als die Jurys, wie Stefan Oeschger ausplauderte. Susanne Zenker, Leiterin Development SBB Immobilien, pflichtet dem jungen Gestalter bei. Sie kündigte an, man werde seitens der SBB vorläufig noch von digitalen Wettbewerben absehen. Nur das Vorhandensein entsprechender Fähigkeiten bei den Architekt*innen werde im Hinblick auf die möglicherweise folgende Zusammenarbeit zunächst eingefordert.

Grosser Nachholbedarf

Für viele Schweizer Büros, gerade die unzähligen kleinen, stellt sich überdies die Frage, wer eigentlich intern für BIM zuständig sein soll. Kräfte zu schulen oder neu einzustellen, ist kostspielig. Und wie gut sind junge Architekt*innen überhaupt vorbereitet? Werden sie gut präpariert für das Bauen und Planen mit digitalen Werkzeugen? Lernen sie über BIM, parametrisches Entwerfen und Design-to-Production? Johannes Käferstein, Präsident des Architekturrats der Schweiz und Leiter des Master-Studiengangs der Hochschule Luzern – Technik & Architektur, desillusionierte: Die Ausbildung sei hierzulande noch sehr konservativ, wichtige Lehrinhalte müssten erst aufgebaut werden. Im internationalen Vergleich warte viel Nachholarbeit, meinte er. Katharina Lehmann, CEO der Blumer-Lehmann Gruppe, bestätigte während der zweiten Diskussionsrunde am Nachmittag, dass es an Schweizer Fachkräften mangelt. Sie hält die Ausbildung – Stand jetzt – für unzureichend und praxisfern. Ihre Forderung ist eine engere Zusammenarbeit von Hochschulen und Industrie. Ins selbe Horn stiess auch ETH-Professor Matthias Kohler; an seinem Lehrstuhl würden fast keine Schweizer*innen arbeiten, sagte er.

Indes eröffnet die Digitalisierung jungen Architekt*innen neue Betätigungsfelder und gibt ihnen neue berufliche Optionen. So besteht die grosse Abteilung für digitale Technologie bei Herzog & de Meuron, wie ihr Leiter Steffen Riegas berichtete, von Game Designern abgesehen, ausschliesslich aus Architekt*innen. Die Gruppe, die unter Einsatz grosser finanzieller Mittel aufgebaut wurde, umfasst dabei verschiedenste Expert*innen von der BIM-Managerin bis hin zum VR-Spezialisten.

Foto: Stefan Kubli © Basler & Hofmann

Während hinsichtlich der hiesigen Architekturausbildung Nachholbedarf besteht, ist die Schweizer Forschung weltweit spitze. Matthias Kohler gab Einblick in seine Arbeit und erläuterte Projekte wie die Akustikwände am Firmensitz von Basler & Hofmann in Esslingen, die mithilfe einer Augmented Reality-Anwendung gebaut wurden, oder den parametrisch entworfenen Pavillon «Future Tree» am selben Ort. Kohler sagte, künftig würde wohl ein Teil des architektonischen Prozesses auf der Ebene von Software stattfinden. Er meint damit, dass parametrische Methoden, das Programmieren statt Zeichnen von Architektur, mittelfristig zu einem wichtigen Teil des kreativen Prozesses avancieren könnten – was allerdings nicht bedeute, die Hoheit über diesen dem Computer zu überantworten. Es sei matchentscheidend, so Kohler, den Student*innen entsprechende Kenntnisse mitzugeben; eigentlich müsste schon in der Primarschule Programmieren unterrichtet werden. Er sagte schliesslich auch, dass parametrische Methoden nicht zwangsläufig zu wilden Formen führen müssten, sondern auch beispielsweise in den Dienste der Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung gestellt werden könnten.

Übersehene Gefahr?

Bemerkenswert und in Teilen unbequem war der Vortrag des jungen belgischen Architekten Gilles Retsin, der mit seinem Londoner Büro radikal durchrationalisierte Entwürfe entwickelt. Denn während die Architekturszene sich vornehmlich um die Risiken und Nebenwirkungen neuer Methoden und Werkzeuge sorgt, zeichnet sich eine ganz andere Frontlinie ab: Die «grossen Plattformen» – also monopolistische Unternehmen wie Google oder Amazon, die durch den Betrieb digitaler Plattformen grosse Mengen privaten Kapitals anhäufen – drängen in die Bauwirtschaft. Ihr nächstes Ziel sei es, so Retsin warnend, eine Plattform für Wohn- und Städtebau zu etablieren.

Eine Gefahr, auf die auch Matthias Standfest im Frühjahr im Interview mit Swiss-Architects.com hingewiesen hat. Und tatsächlich: Googles Mutterfirma Alphabet tritt in Toronto, das als erste Grossstadt angebissen hat, mit ihrer Tochter Sidewalk Labs als Stadtplanerin und -verwalterin auf. Dort entsteht auf dem Areal «Quayside» ein ganzes Stadtquartier mit Wohnungen, Geschäften und dem Hauptquartier von Google in Kanada. 4,8 Hektar beansprucht die Anlage, sie ist aber nur Teil grösserer Pläne. Auf den Strassen sollen selbstfahrende Autos rollen, Sensoren und Kameras überall Informationen über Umweltbedingungen, Lautstärke, Verkehr etc. sammeln. Ziel sei, so schrieb Oliver Pohlisch letztes Jahr auf German-Architects.com, Infrastruktur so günstig bereitzustellen und zu betreiben, dass Städte und Kommunen, dauernd gezwungen zu sparen, die Dienste des Internetkonzerns schwerlich ablehnen können – der «Griff nach den urbanen DNA-Strängen», wie Pohlisch es nennt. Er folgert düster: «Die Privatisierung der Stadt würde damit auf die Spitze getrieben, mittels künstlicher Intelligenz geriete die Befugnis über öffentliche Angelegenheiten in die Hände eines von keinem Wähler legitimierten Konzernmanagements, das ganz offen Allmachtsfantasien artikuliert.»

Restin beruhigte, in Europa sei man gegen derlei Entwicklungen vergleichsweise gut geschützt. Auch auf Städte wie Berlin haben die Internetkonzerne allerdings längst ein Auge geworfen, wie Pohlisch in seinem Artikel «Wenn die Downtown dem Onlinehändler gehört» aufzeigt. So plante Google bereits einen grossen Campus in Kreuzberg, der aber tatsächlich an heftigsten Protesten scheiterte.

Vielleicht sollte als Nächstes über die vielfältigen und teils bedrohlichen politischen sowie sozialen Folgen der Digitalisierung debattiert werden…

Visualisierung: Sidewalk Labs

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