Wider die Ohnmacht

Susanna Koeberle
15. febrero 2024
Die Engadin Art Talks fanden vom 26. bis zum 28. Januar in Zuoz statt. (Foto: Saskja Rosset)

Kann Kunst die Welt retten? Das Weltrettungsnarrativ, das regelmässig in verschiedenen Diskursen rund um die Rolle der Kultur herumgeistert, vernebelt die Sicht. Denn zum einen sind Gewicht und Verantwortung, die damit auf einer Disziplin lasten, unverhältnismässig und zum anderen verstärkt dieses hypostasierte Bild nur unsere Ohnmacht. Und dieses Gefühl ist definitiv Gift für unsere Handlungsfähigkeit. Ohnmacht ist eine starke Empfindung, die jederzeit von uns Besitz ergreifen kann; insbesondere heute angesichts multipler Krisen und Katastrophen. Den Begriff der Katastrophe möchte ich an dieser Stelle kurz beleuchten, denn er beinhaltet einen interessanten Aspekt. Das aus dem Griechischen stammende Wort bedeutet eigentlich Wendung und kommt ursprünglich aus der Dramentheorie. Es bezeichnet den Moment, in dem sich das Schicksal eines Helden oder einer Heldin entscheidet. In einer Tragödie endet dies häufig mit dem Tod des Hauptprotagonisten. Aber: Wenden können sich Dinge ja auch zum Guten. Vom Potenzial dieses Momentums könnten wir alle profitieren. Wenn wir im Alltag von Katastrophen sprechen – ich habe den Zug verpasst oder die Suppe versalzen –, dann wissen wir ja auch, dass dieses Ereignis keine einschneidenden Auswirkungen haben wird. Wir versinken deswegen nicht gleich in Verzweiflung. Genau diese Kraft sollten Menschen mobilisieren, wenn es um die «richtigen» Katastrophen geht. Das Wichtigste daran: Das kann nur gemeinsam geschehen, dann, wenn Menschen sich zusammentun und etwas bewirken wollen. Im besten Fall handeln sie auch danach. Dann können sie die Welt mit ihren Taten – dazu kann auch Kunst zählen – zwar nicht retten, aber sie können sie verändern. 

Die Kurator*innen der 12. E.A.T. (von links nach rechts): Daniel Baumann, Koyo Kouoh, Philip Ursprung, Cristina Bechtler und Hans Ulrich Obrist (Foto: Saskja Rosset)

Als Sensibilisierung für solche Fragestellungen bot ein vorgängiger Workshop von Dorothea Strauss mit dem Titel «Negative Capability: Empowering Uncertainty and Ambivalence through Art» eine gute Einstimmung auf das Motto der diesjährigen Engadin Art Talks (E.A.T.) «Jenseits von Ohnmacht / Beyond Powerless». Gefragt war ein gemeinsames Nachdenken über unsere – damit war später auch das grosse Publikum der E.A.T. gemeint – Handlungsmöglichkeiten. Als die Kurator*innen Cristina Bechtler, Philip Ursprung, Daniel Baumann, Koyo Kouoh (neu) und Hans Ulrich Obrist letztes Jahr das Thema der heurigen E.A.T. wählten, konnten sie noch nicht wissen, wie sehr es den Nerv unserer Zeit treffen würde. In der Tat ist es so, dass zu all den bestehenden Krisen der aktuelle Krieg in Palästina / Israel uns zusätzlich erneut die unvorstellbare Brutalität, zu der Menschen fähig sind, vor Augen führt. Und damit Nahrung für Ohnmachtsgefühle «bietet». 

Seit der ersten Ausgabe 2010 finden die E.A.T. in der Turnhalle der Gemeinde Zuoz statt. (Foto: Saskja Rosset)

Im Wort Ohnmacht steckt der Begriff Macht. Das kunstinteressierte Publikum der E.A.T. gehört ohne Zweifel zu den privilegierten Bewohner*innen dieses Planeten. Umso wichtiger scheint es, dass die E.A.T. Themen adressieren, die es schaffen, diese Macht gleichsam umzupolen – als eine Form von Handlungsfähigkeit zu verstehen also, die alle Menschen betrifft. Ganz allgemein tut es der «Kunst-Bubble» gut, sich ihren eigenen Praktiken der Exklusion zu stellen. Diese Ebene der Selbstreflexion sowie der Versuch, Wege aus einer «Gated Community» zu finden, machten viele der diesjährigen E.A.T.-Beiträge zu inspirierenden, beglückenden und Hoffnung stiftenden Erfahrungen. 

Der Filmemacher und Künstler Menelaos Karamaghiolis gab Einblick in seine Arbeit. (Foto: Saskja Rosset)

Zu den Referaten und Gesprächen, die mich besonders beeindruckten, gehören diejenigen des griechischen Filmemachers und Künstlers Menelaos Karamaghiolis sowie der amerikanisch-venezolanischen Architektin Elisa Silva. Dies insbesondere, weil ihre Praxis zeigt, was Architektur und Kunst bewirken können. Wobei ich präzisieren muss: Nicht die Disziplinen an sich sind dabei Akteure, sondern Personen aus weniger privilegierten Gemeinschaften. Genau für diese menschenzentrierte und agierende Perspektive vermochten beide Vortragenden zu sensibilisieren. Bei Karamaghiolis ging es um jugendliche Gefangene und Menschen aus der afrikanisch-griechischen Community Athens. Der Filmemacher arbeitet seit zehn Jahren an Projekten, die diese besonders verletzlichen Gruppen zu Hauptprotagonisten machen. Damit gibt er diesen «powerless heroes» – wie er es ausdrückte – eine Stimme und hebt bewusst das «ohne» der Ohnmacht, das «less» von powerless auf. 

Die amerikanisch-venezolanische Architektin Elisa Silva ist Leiterin und Gründerin von Enlace Arquitectura und der Enlace Foundation. Sie arbeitet mit Gemeinschaften und leitet unter anderem auch eine kollektive, kunstbasierte Bewegung zur Renaturierung des Flusses Guaire in Caracas. (Foto: Saskja Rosset)

Was das Bild von Leuten betrifft, die nicht zu den Gewinner*innen auf dieser Welt oder zur westlichen, saturierten und weiss dominierten «Zivilisation» gehören, sind wir in der geschützten Insel Schweiz häufig Opfer von Vorurteilen. Das erfuhr auch Philip Ursprung, als er im Rahmen der Vorbereitung zum Schweizer Pavillon an der letzten Architekturbiennale nach Venezuela reiste. Dort öffnete ihm die Architektin Elisa Silva die Augen für ihr Land: für seine Schönheit, für die mit der politischen Situation verbundenen Schwierigkeiten und für ihre Arbeit, mit der sie Menschen ohne Macht ermächtigt. Caracas sei eine Stadt, die stark durch Barrios, also informelle Siedlungen, geprägt sei, erklärte sie. Dabei machte sie deutlich, wie stark international gefeierte Architekturikonen den Blick auf andere Formen des Bauens und Wohnens verstellen. Zumal in ihrer Stadt die Hälfte der Bevölkerung in sogenannt «self built neighbourhoods» lebt. Diese selbsterstellten und ohne Spezialist*innen erbauten Häuser schaffen ebenso Stadt. Sie nahm bei diesem Gedanken Bezug auf die Schriften des englischen Theoretikers und Architekten John Turner, Autor des Buches «Housing by People». 

Entgegen weit verbreiteter Klischees geht es den Leuten in solchen Vierteln häufig nicht schlecht, jedenfalls besser als in von Architekt*innen geplanten «Social Housing»-Bauten. Diese Tatsache sollte Architekturschaffenden eine Lehre sein, findet Silva. Einen Prozess des «Entlernens» von Mustern machte auch sie selbst durch. Sie und ihr Team von Enlace Arquitectura widmen sich unter anderem dem Erstellen und Ermöglichen von öffentlichen Räumen und Gemeinschaftszentren (wie «La Casa de Todos»), zum Beispiel im Barrio «La Palomera». Damit trägt das Büro dazu bei, dass diese Gegenden als integraler und lebendiger Teil der Stadt anerkannt werden. Zugleich baut Silvas Arbeit die Vorurteile gegenüber den Barrios auch innerhalb von Caracas selbst ab und verschafft ihnen Respekt. Fazit: Architektur kann nicht nur Bauwerke erschaffen, sondern ebenso Menschen ermächtigen, ihre eigenen Formen des Zusammenlebens zu gestalten.  

Paola Audrey Ndengue ist eine französisch-kamerunische Content-Produzentin, Unternehmerin und Medienpersönlichkeit, die sich auf Medien, Kultur und kreatives Marketing spezialisiert hat. (Foto: Saskja Rosset)

Häufig ist es schwierig, festgefahrene Strukturen und Normen, denen auch Architekturschaffende glauben entsprechen zu müssen, überhaupt zu erkennen. Dasselbe gilt für Formen der Unterdrückung, die teilweise unbewusst geschehen. Brillant führte Paola Audrey Ndengue solche blinden Flecken vor. Die französisch-kamerunische Content-Producerin und Medienspezialistin, die zurzeit in der Elfenbeinküste lebt, sprach über Resilienz. Ihr Vortrag war einerseits überraschend, weil sie dies aus der Perspektive der Popkultur tat, und zum anderen, weil sie zeigte, wie voreingenommen die westliche Sichtweise auf den afrikanischen Kontinent nach wie vor ist. Das Bild eines «hoffnungslosen Kontinents» scheint sich hartnäckig zu halten, obwohl diese Mentalität – nämlich Hoffnungslosigkeit – überhaupt nicht der Realität entspricht. Im Gegenteil: Ein häufig verwendetes Bonmot in ihrem Land sei «ça va aller» (es wird schon gehen). Dabei könne Resilienz aber auch eine Falle sein, denn der Begriff geht stets von einer bestehenden Not aus. Dadurch würden Probleme wie etwa die Korruption als Normalität hingenommen, erklärte Ndengue. Als Instrument für Veränderung schlug sie hingegen das Akzeptieren von Schmerz und Wut vor. Das mag erstaunen. Doch es sind solche Gefühle, die der Ohnmacht etwas entgegensetzen können. Leiden passiv hinzunehmen, kommt dem Tod gleich. Solange wir leben, sei Ohnmacht gar nicht möglich, fand die amerikanisch-syrische Künstlerin Simone Fattal, die am zweiten Tag der E.A.T. sprach. Aus dieser Geisteshaltung nährt sich auch die Kraft der Kunst.

Die Künstlerin Simone Fattal im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist (Foto: Saskja Rosset)

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