Eine Auslegeordnung mit Potenzial zum Standardwerk

Elias Baumgarten
16. mayo 2024
Foto: Elias Baumgarten

«Unsere modernen, komfortablen Bauten entsprechen in keiner Weise mehr klimabezogenen Entwürfen, geschweige denn Konstruktionen der Vergangenheit. ‹Klimabezogen technisiert› beschreibt die Funktionsweise treffender.» – Für mich sind diese Sätze eine Schlüsselpassage im «Architektur Klima Atlas». Sie stammen von Christian Meier, der das hervorragende Buch gemeinsam mit Jürg Graser und Astrid Staufer herausgegeben hat. Das Nachschlagewerk ist eine Kritik an der Moderne. Um nämlich deren «fliessende» Räume hinter Glasfassaden komfortabel zu machen, wurden Unmengen fossiler Brennstoffe verfeuert. Plädiert wird stattdessen für eine von historischen Bauten inspirierte Architektur, die Materialeigenschaften, physikalische Gesetzmässigkeiten und Geometrie geschickt nutzt, um ohne hohen technischen Aufwand behagliche Räume zu schaffen. Denn Haustechnik ist, wie Christian Meier erklärt, «das Konstruktionselement mit der kürzesten Lebensdauer und der grössten Erneuerungsrate in einem Bauwerk». Sie hat darum einen erheblichen Einfluss auf die Ökobilanz und sollte nur sparsam eingesetzt werden.

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Eine neue Perspektive

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Auf einen Blick in die Architekturgeschichte folgt eine Erklärung des ökologischen Fussabdrucks an fünf Beispielen. Sechs Aufsätze runden den «Architektur Klima Atlas» ab. Sie schlagen sechs Adjektive vor, die nachhaltiges Bauen charakterisieren könnten: klimabezogen, hierarchisch, wandlungsfähig, materialbewusst, vernetzt und erfinderisch. Aktuelle Projekte dienen dabei der Veranschaulichung. 

Schon der Einstieg ist eine helle Freude. In kurzen, wunderbar pointierten Texten werden Bauwerke und Schriften von zwanzig Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Epochen auf ihren Umgang mit Ressourcen und Energie hin befragt. Es hat mich beim Lesen gefesselt, wie eine neue, zuweilen überraschende Architekturgeschichte entsteht. Ich habe mitgenommen, dass klimabezogenes Bauen mit vor Ort vorhandenen Materialien für unsere Vorfahren die meiste Zeit genauso selbstverständlich war, wie ein sparsamer Umgang mit Energie. Das mittelalterliche Kloster Abbaye du Thoronet zum Beispiel wurde von einheimischen Handwerkern errichtet. Sie verwendeten Baustoffe, die nur wenige Hundert Meter vom Bauplatz entfernt gewonnen wurden: Steine aus einem benachbarten Steinbruch, Holz aus dem umliegenden Wald und Kalkmörtel aus einer nahegelegenen Grube. Dank der dicken Klostermauern kamen die Mönche weitgehend ohne Heizung aus, eine Feuerstelle gab es nur in der Küche. 

Erst mit der viel zu billigen und vermeintlich schier unbegrenzten Verfügbarkeit fossiler Brennstoffe haben wir diese umsichtige Art zu Bauen verlernt. Das heisst aber mitnichten, dass Architektinnen und Architekten nicht gleichzeitig visionäre Konzepte entwickelten: Im «Architektur Klima Atlas» wird neben Persönlichkeiten wie dem Solarpionier Pierre Robert Sabady oder Thomas Herzog, der um das Jahr 2000 anders als die meisten seiner Kollegen auf Lowtech setzte, Buckminster Fuller als Vorreiter der Ökologiebewegung gewürdigt. Christian Meier bringt den amerikanischen Architekten und Denker als Vertreter einer Gegenposition zur kritisierten Moderne in Stellung: «Buckminster Fuller bildet einen Kontrapunkt zur europäischen Moderne, welche das Haus als Maschine sah, jedoch den konventionellen Hausbau nie verlassen hat. Buckminster Fuller erweitert das Gedankengebäude der Architektur um die Möglichkeiten der Naturwissenschaft, deren Methoden und Technologien er auf das Bauen überträgt. Für die Baubranche ist das bis heute revolutionär.»

Foto: Elias Baumgarten
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Wertvolles Wissen

Nach dem lehrreichen Schwenk über die Architekturgeschichte widmet sich das Buch dem ökologischen Fussabdruck. Dieser Abschnitt basiert auf der Forschung des Instituts Konstruktives Entwerfen der Architekturabteilung der ZHAW. Vorgestellt wird die Untersuchung fünf beispielhafter Wohnbauten: Texte beschreiben ihre Konstruktionen und geben Auskunft über spätere Anpassungen. (Detail)Pläne und Tabellen ergänzen das Gesagte. Jürg Graser, Astrid Staufer und Christian Meier möchten Architektinnen und Architekten so Fachwissen an die Hand geben, damit sie weniger auf Spezialistinnen und Spezialisten angewiesen sind und ihre Verantwortung für ein umweltfreundliches Bauen besser wahrnehmen können. Zu lernen gibt es viel: Wer zum Beispiel den Wärmeschutz alter Häuser verbessern möchte, setzt am besten beim Dach und den Fenstern an. Der architektonische Ausdruck muss nicht immer neuen Dämmschichten geopfert werden. Das beweist das Beispiel der bekannten Siedlung Halen aus der Nachkriegszeit: Durch den Ersatz eben dieser Bauteile sank der Heizwärmebedarf um rund 30 Prozent.

Foto: Elias Baumgarten
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Anregende Beispiele statt erhobenem Zeigefinger

Sehr gelungen sind auch die sechs Aufsätze des dritten Buchteils. Merklich länger als die Beiträge zur Architekturgeschichte lesen sie sich nicht minder flüssig. Und vor allem: Weil die Autorinnen und Autoren ihre Argumentation jeweils an Positivbeispielen festmachen, wirken ihre Texte nicht belehrend oder gar moralistisch, sondern inspirierend. Christian Meier etwa erklärt in «klimabezogen», inwiefern historische Bauten eine regelrechte Fundgrube voll von Ideen für das klimagerechte Bauen sind. Er bespricht drei Beispiele, wie alte Einfälle ins Heute übertragen wurden: Die Wohnungen des Hauses «Burggarta» von Gion A. Caminada in Valendas bestehen aus einem warmen Kern mit Küche und Bad, um den temperierte Wohnräume und ungeheizte Pufferzonen angeordnet sind – ähnlich wie beim Wohnteil eines alten Bauernhauses. Denn ist im Badezimmer Wärme angenehm, darf es im Schlafraum kühl sein. Das Funktionsprinzip der Lüftung der Schulräume des Landwirtschaftlichen Zentrums St.Gallen in Salez ist unterdessen alten Ställen entlehnt. Tiefe Balkone und Schiebeläden spenden zudem Schatten und sorgen dafür, dass sich der Lowtech-Bau aus Holz im Sommer trotz seiner grossen Fenster nicht unangenehm aufheizt. Und der Bürobau «2226» von Baumschlager Eberle in Vorarlberg schliesslich kommt ohne Heizung aus. Dafür sorgen die 82 Zentimeter dicken Mauern und die kleinen, tief eingeschnittenen Fenster. Auch eine Klimaanlage macht die von nordafrikanischen Lehmbauten inspirierte Konstruktion überflüssig: Selbst an heissen Sommertagen steigt die Raumtemperatur nicht über 26 Grad.

Diese Widerstandsfähigkeit gegen sommerliche Überhitzung wird zukünftig wesentlich an Bedeutung gewinnen: Die Jahresdurchschnittstemperatur ist in der Schweiz verglichen mit dem Zeitraum zwischen 1871 und 1900 bereits um mehr als 1,5 Grad gestiegen. Zudem rechnet MeteoSchweiz mit einer weiteren Erwärmung um bis zu 3,5 Grad. Auch soll die Anzahl der Hitzetage stark zunehmen, also von Tagen, an denen es mindestens 30 Grad warm wird. Ganz besonders eingeprägt hat sich mir darum Christian Meiers Hinweis auf die Auswirkungen des Klimawandels: «Während sich die letzten beiden Dekaden primär auf die Reduktion des Heizwärmebedarfs konzentrierten, muss sich zukünftig das Augenmerk verstärkt auch in Richtung des sommerlichen Komforts verschieben. Wie lässt es sich in den heissen Sommermonaten in unseren Gebäuden leben, ohne gesundheitliche Einbussen zu erleiden?» 

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