Zumthors Bau in Bregenz wird zum Planeten
Susanna Koeberle
26. October 2021
«Unearthed – Abyss» im Erdgeschoss des Kunsthauses Bregenz; dort treffen Besucher*innen zum ersten Mal auf einen mächtigen Baumstamm. Der Baum ist das Leitmotiv der mehrteiligen Schau. (Foto: Markus Tretter, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin © Otobong Nkanga, Kunsthaus Bregenz)
Die nigerianische Künstlerin Otobong Nkanga hat für das Kunsthaus Bregenz eine mehrteilige Ausstellung entwickelt, die uns klar macht: Verletzen wir die Erde, verletzen wir uns. Der Lehmboden im obersten Stockwerk entstand in Zusammenarbeit mit Martin Rauch.
Otobong Nkangas Ausstellung im Kunsthaus Bregenz erlaubt nicht nur tiefe Einblicke in die ausbeuterische Praxis des Menschen, sie ist überdies eine Reverenz an die aussergewöhnliche Architektur Peter Zumthors – überhaupt an Räume als Träger von Informationen und Geschichten, als im wahrsten Sinne des Wortes geschichtete Strukturen. Die sichtbare Materialität des Betons widerspiegelt sich in den von der Künstlerin verwendeten Materialien. Im Erdgeschoss sehen wir einen Baum, der aus einem Haufen Schlacke ragt und durch die Decke zu wachsen scheint. Und im obersten Stockwerk betreten Besucher*innen eine Landschaft aus Lehm, die in enger Zusammenarbeit mit dem Vorarlberger Lehmbauspezialisten Martin Rauch entstanden ist. Die vier Stockwerke werden gleichsam in eine planetarische Dimension eingebunden.
Foto: Markus Tretter, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin © Otobong Nkanga, Kunsthaus Bregenz
Die Erdmaterialien verbinden sich in Nkangas Installation zudem mit dem Element Wasser. Darauf verweisen auch die vier riesigen, farbigen Tapisserien, die mit Motiven aus der dunklen Welt der Meere beginnen. «Unearthed – Abyss», so der Titel der Installation im untersten Geschoss des Zumthor-Baus. Nach «Unearthed – Midnight» und «Unearthed – Twilight» im 1. und 2. Obergeschoss gelangen wir schliesslich (begleitet durch den Baumstamm) in die oberste Zone, «Unearthed – Sunlight». Dort erwartet uns eine fast dystopisch anmutende Landschaft aus Lehm und kleinen Seen. Die Spitze des Baumes ist verkohlt, als hätte die Sonne ihre ganze Energie dort freigesetzt. Die Nadel als aggressives Instrument nimmt wiederum ein Motiv der untersten Tapisserie mit dem Meeresgrund auf.
Das Wasser wird im Laufe der Ausstellungszeit immer mehr eintrocknen. Dieses Schwinden manifestiert sich auch im Prozess des Absterbens des mächtigen Baumstammes, der vom Erdgeschoss aus durch die drei oberen Stockwerke zu dringen scheint. Diesen rund 100-jährigen Baum wählte die Künstlerin gemeinsam mit einem Förster der Region aus. Anhand des Mistelzweigbefalls habe sich gezeigt, dass er bereits im Begriff war abzusterben. Zudem habe er jüngeren Bäumen das Licht genommen, erzählt Nkanga während des Artist Talks am Tag nach der Eröffnung. Fast scheint es, als wolle sie sich vorauseilend entschuldigen für diesen Raub bei der Erde. Das Loch, das der Baum hinterliess, liest sie auch als Wunde. Als Geste der Heilung pflanzte Nkanga an diesem Ort mehrere Bäume. Die gewaltsame Extraktion von Ressourcen – dazu gehört bei ihr auch das Verfügen über menschliche Ressourcen – ist ein wichtiges Thema in ihrer Arbeit.
«Unearthed – Sunlight» im 3. Obergeschoss des Kunsthauses Bregenz (Foto: Markus Tretter, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin © Otobong Nkanga, Kunsthaus Bregenz)
Mit dem Verweben von menschlichen Schicksalen mit planetarischen Lebenszyklen macht Otobong Nkanga auch die Geschichte ihrer Landsleute, die in die USA verschleppt wurden und teilweise schon auf der Überfahrt ihr Leben verloren, sichtbar. Doch der Tod hat bei ihr auch eine tröstende Komponente, denn was sie uns präsentiert, ist die stetige Transformation der Erde: der immerwährende Zyklus von Leben und Tod. Ihre Arbeit bricht mit der gängigen Dichotomie und zeigt uns damit zugleich, wer wirklich von unserer Ausbeutung bedroht ist: die menschliche Spezies. Alles andere Leben wird weiter bestehen. Insofern führt sie uns auch unsere eigene Verletzlichkeit vor Augen. Ihre Wortkreation «Fragilology» benennt eine Wissenschaft der Fragilität. Dieser Aspekt manifestiert sich in den mit jungen Pflanzen gefüllten Glaskugeln, die im zweiten und dritten Geschoss am Boden liegen. Durch sie hindurch gehen dicke rötliche Seile, die im Baumstamm enden und sich durch ihn hindurch zum nächsten Stock schlängeln. Die Assoziation mit Adern liegt nahe; und die Analogie zwischen menschlichem Körper und Erde ebenso. Wenn wir die Erde verletzen, verletzen wir also uns selbst.
Otobong Nkanga und Martin Rauch beim Aufbau der Ausstellung im 3. Obergeschoss (Foto: Miro Kuzmanovic © Kunsthaus Bregenz)
Minen etwa sind solche Wunden. Aber auch Hochhäuser verweisen auf die Extraktion von Materialien: In der Lesart der Künstlerin korrelieren diese von Menschen erbauten Erhebungen mit einem Loch in der Erde. Die Intensität und Energie eines Bauwerks geht eben nicht verloren, sondern bleibt gleich. Es ist nur eine Frage der Verschiebung der Wahrnehmung. Können wir die Erde als ein System verstehen, in dem alles miteinander verbunden ist? Otobong Nkangas Kunst führt uns auf anschauliche Weise vor Augen, dass jede Materie eine Bedeutung hat, auch wenn wir es nicht immer verstehen (wollen).
«Unearthed – Midnight» im 1. Obergeschoss des Kunsthauses Bregenz (Foto: Markus Tretter, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin © Otobong Nkanga, Kunsthaus Bregenz)
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