«Objekte der Begierde»

Cyrill Schmidiger
16. October 2019
Installationsansicht aus «Objekte der Begierde. Surrealismus und Design 1924 – heute»
(Foto © Vitra Design Museum, Ludger Paffrath)

Da sind sie, die prominenten Surrealist*innen: Marcel Duchamp und René Magritte, Meret Oppenheim und Man Ray oder Giorgio de Chirico und Salvador Dalí. Mit amüsanten Werken hinterfragten sie nicht nur das tradierte Sehen, sondern provozierten auch den einen oder anderen Lacher – beispielsweise Magritte, der 1947 oder 1948 ein paar Schuhe malte, dessen Spitzen in menschlichen Füssen enden. Doch es geht auch ernster: Der extrovertierte Dalí bildete eine riesige fliegende Mokkatasse mit unerklärlicher Fortsetzung von fünf Metern Länge ab – so heisst denn gerade auch der Titel des 1944–45 entstandenen Gemäldes. Der spanische Dandy arbeitete mit Elementen aus Arnold Böcklins traumhafter Bilderwelt, etwa der Toteninsel, die er uminterpretierte und in einen neuen Zusammenhang stellte. Dekontextualisierung als künstlerische Strategie machte sich aber schon der Dadaismus zu eigen. Duchamps Flaschentrockner von 1914 ist ein Readymade, also ein vorgefundener Alltagsgegenstand, der dieses Prinzip exemplarisch veranschaulicht und auch in der Ausstellung präsentiert wird.

Installationsansicht aus «Objekte der Begierde. Surrealismus und Design 1924 – heute»
(Foto © Vitra Design Museum, Ludger Paffrath)
Legere Basteleien

Dass vom Franzosen diverse surrealistische Impulse ausgingen, zeigt die Schau anhand von mehreren Objekten. Achille Castiglioni entwarf unter anderem den kuriosen Hocker «Mezzadro» (1957), ein rot lackierter Traktorensitz, der auf einem gebogenen und verchromten Stahlband mit Holzstrebe aufliegt. Und auch Gae Aulenti liess sich von Duchamp inspirieren: Sie setzte ihren Tisch «Tour» (1993) auf Fahrradräder – eine unmittelbare Hommage auf dessen Readymade «Roue de Bicyclette» (1913). Es sind erfrischende Collagen, die den rationalistisch-funktionalen Ansatz heiter konterkarieren. Manchmal ist dieses Design nicht auf einen bestimmten Sinn ausgerichtet, immer aber speist es sich aus freien Assoziationsformen und spielt mit absurden, irritierenden oder zufälligen Komponenten. So schuf Konstantin Grcic 1992 einen Kleiderbügel, der auf der einen unteren Seite eine Bürste integriert und dadurch wie ein hybrides Ding anmutet. Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss sprach in diesem Kontext von der Bricolage. Die Methode des Bastlers diskutierte er in seinem Buch «Das Wilde Denken», das 1962 erschien.

Neue Universen schaffen

Viele Surrealist*innen sahen die indigene Kunst von afrikanischen, ozeanischen oder indianischen Stammesgruppen als Inbegriff ihrer eigenen Objekte an. Sie entfaltete nicht nur eine suggestive Wirkung, sondern verwies auch auf ein mythisches Reich jenseits der sichtbaren Realität. Latent verborgene Gefühle darstellen und das Unbewusste zulassen, den Zufall provozieren und in den unkontrollierten Traum eintauchen: Die Surrealisten wurden dem mit unterschiedlichen Techniken gerecht. André Breton, Dichter und inoffizieller Kopf der surrealistischen Bewegung, sprach von der écriture automatique, dem automatischen Schreiben. Intuitiv sollten Gedanken und Worte wiedergegeben werden und dabei Ausdrücke und Emotionen möglichst unverfälscht – quasi im Urzustand – erhalten bleiben. Max Ernst arbeitete in seinen Werken hingegen oftmals mit der sogenannten Frottage und Grattage. Meinen erstere das Abreiben einer materiellen Struktur mittels Kreide oder Bleistift auf ein anderes Medium, so bedeutet letzteres das Abkratzen von übereinander aufgemalten Schichten. Gerade dadurch entstanden neue Formen, wie das Gemälde «Wald, Vögel und Sonne» (1927) zeigt.

Installationsansicht aus «Objekte der Begierde. Surrealismus und Design 1924 – heute»
(Foto © Vitra Design Museum, Ludger Paffrath)
Ein architektonisches Capriccio

Die Moderne nahm vom Primitivismus verschiedene gestalterische Inputs auf. Und viele kauften entsprechende Kunst, ja legten gar eigene Sammlungen an. So auch Le Corbusier: Seine Kollektion von poetischen Objekten sollten dichterisch-narrative Emotionen hervorrufen. Der schweizerisch-französische Architekt durfte zudem für Carlos de Beistequi, einen Sammler und Mäzen surrealistischer Kunst, ein Dachappartement in Paris (1929–31) entwerfen. Die Terrasse bildete eine Art ironische Collage, die zu Träumereien und existenziellen Ausschweifungen einladen sollte: Der rundum geschlossene Bereich mit Rasen hatte automatisch verschiebbare Hecken und ein Periskop, das den Arc de Triomphe als objet de luxe in das Arrangement des Dachgartens einbezog. Diverse barocke Möbel und ein ebenso üppiger Freiluftkamin mit ovalem Spiegel, die die strahlend weissen Brüstungswände kontrastierten, rundeten das Ambiente ab. Ein Bild, das 1936 in der Zeitschrift Plaisir de France veröffentlicht wurde, zeigt auch einen Papagei, thronend auf einer Platte, die auf einem skelettartigen Stab aufliegt. Da ging es bunt zu und her.

Bereichern

Der vielseitige Le Corbusier arbeitete also nicht nur funktional. Generell zeigt die Schau, dass sich schon in den 1940er-Jahren viele Gestalter*innen von der dominierenden rationalistischen Ästhetik der 1920er-Jahre distanzierten. Insbesondere vom Surrealismus gingen immer wieder wichtige Impulse aus: Menschliche Emotionen, organische Formen oder irrationale Themen eroberten nun das Design. Daher sind einerseits biomorphe Werke von Alvar Aalto oder Hans Arp ausgestellt, anderseits aber auch Werke mit fiktionalem Charakter. Studio 65 kreierte beispielsweise 1971 das skulpturale Sitzmöbel «Capitello», das an die geheimnisvollen Objektfragmente bei Giorgio de Chirico erinnert. Robert Matta hingegen schuf 1970 den Sessel «MAgriTTA» – ein Apfelhut, der sich an René Magrittes 1964 entstandenes Gemälde «Der Sohn des Menschen» anlehnt. Gleichzeitig ist hier die semantische Wende der Postmoderne lesbar: Der Botschaft eines Gegenstands wurde nun mindestens so viel Relevanz beigemessen wie seinem Gebrauchswert.

Konstantin Grcic, Coathangerbrush (Reedition für Muji), 2002 (mit freundlicher Genehmigung von Ryohin Keikaku Co., Ltd.)
Tiefenpsychologie und visualisierte Statements

Die Schau mit dem Titel «Objekte der Begierde» nimmt sich auch der erotischen Seite an: Liebe und Sexualität spielten im Surrealismus eine zentrale Rolle. Salvador Dalí etwa entwarf 1938 ein Lippensofa, das die Gruppe Studio 65 1970 als Remake auf den Markt brachte. «Bocca» war ursprünglich für ein Fitnessstudio in Mailand entstanden – da prallten Welten aufeinander. Und Man Ray kritisierte mit seinen Selbstporträts als Frau die stereotypischen Geschlechterbilder ebenso wie später BLESS mit ihrer Haarbüste: Diese ist wegen den Haaren vollkommen dysfunktional und stellt so ein bissiger Kommentar zu den vorherrschenden Gendervorstellungen und Schönheitsidealen dar. Widerstand leisten, mit Gewohnheiten brechen und aus dem Alltag ausscheren: Der Surrealismus ist eine Haltung, die auch heute noch aktuell und wichtig ist. Das zeigt die sorgfältig kuratierte Schau im Vitra Design Museum mit vielseitigen Werken aus unterschiedlichen Epochen lustvoll auf. Sie bleibt bis zum 19. Januar 2020 geöffnet.

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