In stetigem Wandel

Susanna Koeberle
19. February 2020
Projekt Lohsepark in Hamburg (Foto © Giuseppe Micciché)

Das Thema Landschaftsarchitektur ist topaktuell. Auch die ETH Zürich reagiert auf das gesteigerte Bedürfnis nach Expertise auf dem Gebiet der landschaftlichen Gestaltung (gerade auch im urbanen Raum) mit einem neuen Master. Mitinitiiert wurde dieser Lehrgang vom Landschaftsarchitekten Günther Vogt, der seit 2005 eine Professur für Landschaftsarchitektur an der ETH innehat. Vogts Büro ist international aktiv und hat unter anderem mehrere Projekte mit Herzog & de Meuron realisiert. Typisch für seine Arbeitsweise ist das Einbeziehen anderer, auf den ersten Blick eher artfremder Felder wie der Kunst. Überhaupt ist das Metier des Landschaftsarchitekten ganz wesentlich durch Interdisziplinarität geprägt. Wissenschaftliche Disziplinen wie Biologie, Botanik, Geologie spielen als Fundament eine zentrale Rolle, aber auch gesellschaftliche und soziologische Themen wie unser Verhältnis zur Natur finden in der Arbeit der Landschaftsmacher*innen ihren Niederschlag. Die Sorge um unsere Umwelt ist nicht erst seit der Klimakrise ein Thema, Landschaft befindet sich in ständiger Transformation. 

Albrecht Dürer, «The Large Piece of Turf» (Das grosse Rasenstück), 1503, Watercolor and body color heightened with white body color (Abbildung: PD)

Diese prozesshafte Wandlung nimmt auch der Titel einer Publikation auf: Die Begriffe «Mutation» und «Morphose» beleuchten dabei unterschiedliche Aspekte von Veränderung. Ersterer benennt in der Biologie eine (in der Regel) spontane und dauerhafte Veränderung des Erbgutes. Diese ist unter anderem auch für die Entstehung von neuen Arten verantwortlich. Das Wort «Morphose» stammt aus dem Griechischen und geht auf «morphé» (Form, Gestalt) zurück. Diese Art der Veränderung ist eher auf äussere Reize (sogenannte morphogenetische Reize) zurückzuführen. Das ist alles hochgradig komplex. Als wäre der Komplexität nicht schon genügend Ehre erwiesen, treffen wir im Titel auf noch ein Fremdwort: Aggregat. Dazu geben die beiden Herausgeber Günther Vogt und Thomas Kissling gleich im Vorwort eine Erklärung. Das Wort kommt von «aggregare» (Lateinisch), was sammeln bedeutet. Auf diese jahrtausendealte Kulturtechnik verweisen auch die beiden Autoren. Sammlungen sind eine Form von Ordnung, einer sehr persönlichen und nicht primär wissenschaftlichen. Dennoch kann man sagen, dass die Anhäufungen von Dingen «den Beginn der Wissenschaften markiert», so im Vorwort. Auch das Buch selber verstehen Kissling und Vogt als Sammlung. Der Aufbau des Buches besteht denn sinnigerweise in einem Geflecht unterschiedlicher Stränge und steckt dadurch das weite Territorium der Landschaft ab.

Projekt Badaevskiy Brewery in Moskau (Visualisierung © Herzog & de Meuron)

Das bibelartig daherkommende Werk ist in fünf Kapitel gegliedert, die wiederum verschiedene Reflexions- und Darstellungsformen beinhalten. Es gibt die Rubrik Gespräche, wo sich Günther Vogt mit verschiedenen Experten (wie dem Künstler Olafur Eliasson oder dem Architekten Roger Diener) unterhält. In der Rubrik «Projekte» werden verschiedene Arbeiten von VOGT Landschaftsarchitekten detailliert vorgestellt, das macht die Publikation gerade für Fachpersonen besonders interessant. Auch für Laien (oder Hobbybotanikerinnen wie mich) gibt es viel Spannendes zu erfahren. Noch breiter gefasst und der kulturellen Dimension der Disziplin Rechnung tragend sind die beiden Rubriken «Portraits» und «Reflexionen», die jeweils auch bezüglich der Papierfarbe von den übrigen Seiten abgegrenzt sind. Geologische und botanische Aspekte werden als Teil der Kulturgeschichte abgehandelt, wie etwa die Geschichte des Rasens zeigt. Auch die sogenannten «invasiven» Pflanzenarten werden behandelt – ein komplexes (und politisches!) Thema, dem sich auch Künstler wie Uriel Orlow widmen. 

Eine der Interventionen von Julian Charrière im Buch: «The Blue Fossil Entropic Stories I», 2013. (Copyright beim Künstler; VG Bild-Kunst, Bonn, Deutschland; mit freundlicher Genehmigung von Lars Dittrich, Berlin, Deutschland)

Die Exkurse in die Welt der Tiere sind ebenfalls lesenswert. Wir lernen etwas über die Migration des Wolfes nach Mitteleuropa oder über die Biene und ihren Bezug zu Raum. Dreizehn künstlerische «Interventionen» (wieder durch einen Papierwechsel markiert) führen die Universalität der Themen Landschaft und Natur vor. Es ist kein Zufall, dass Landschaft und Kunst schon immer eine enge Beziehung pflegten. «Reine» Natur gibt es nicht, der Mensch hat, seit er auf diesem Planeten wandelt, versucht, einen Einfluss auf seine Umwelt auszuüben; seit der Industrialisierung sind die Folgen davon besonders sicht- und spürbar. Landschaft ist so gesehen immer ein Artefakt. Dass wir diesem Lebensraum dennoch Sorge tragen müssen, zeigt diese Publikation auf subtile Weise. Landschaft steht auch für einen Raum, der allen Lebewesen «gehört» und deswegen auch allen zugänglich sein sollte. Der Mensch neigt leider dazu, die Erde zu einem grossen «Hortus Conclusus» machen zu wollen. Die Natur wird ihm allerdings stets einen Strich durch die Rechnung machen.

Mutation und Morphose. Landschaft als Aggregat

Mutation und Morphose. Landschaft als Aggregat
Günther Vogt, Thomas Kissling

16.5 x 24 cm
784 Pages
1187 Illustrations
Hardcover
ISBN 9783037786192
Lars Müller Publishers
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