Von Spielregeln, Deregulierung und gesellschaftlichem Konsens

Inge Beckel
22. November 2012
© Schweizer Heimatschutz

Man roch die frische Farbe noch, als der Schweizer Heimatschutz SHS Mitte November ins inventarisierte und neu renovierte Volkshaus in Biel lud. Inventare sind massivem politischem Druck ausgesetzt, schrieb der SHS in der Einladung. Berechtigte Anliegen wie die Energiewende und Forderungen nach Verdichtung würden herangezogen, um die rechtliche Wirkung von Inventaren zu schmälern.

Der SHS wollte also Fragen diskutieren wie jene, ob heutige Inventare das Richtige schützen oder wie der Ortsbildschutz in Agglomerationen funktioniert – ein anschauliches Beispiel dazu präsentierte Ariane Widmer vom Bureau du SDOL in Lausanne Ouest, der Agglomeration, der 2011 der Wakkerpreis verliehen wurde (vgl. eMagazin 25/11). Weitere Rednerinnen waren beispielsweise die Denkmalpflegerinnen Katrin Eberhard aus St. Gallen, die das Werk des noch nicht lange verstorbenen Heinrich Graf und die Probleme von dessen Schutz vorstellte, oder Isabel Haupt vom Kanton Aargau, die den zahlreich Angereisten eine kurze tour d'horizon über die Fülle von Schweizer Inventarwerken gab. Die Kurzfassung der Referate gibt es hier als pdf.

Für Nicht-Rechtskundige war insbesondere auch der Vortrag des Berner Rechtsanwalts Ruedi Muggli interessant, der über mögliche oder nicht mögliche Rechtswirkungen von hiesigen Schutzinventaren sprach. Schliesslich ist es für Bautätige und andere Am-Bauen-Beteiligte stets gut zu wissen, in welchem Rahmen das Vorgefundene auf die Zukunft wirkt – oder nicht länger wirken kann. Hier also ein Résumé von Mugglis Ausführungen:

Bastelbogen Haus Niederöst, Schwyz, Blatt 1 © Schweizer Heimatschutz

Friedensordnung
Primär einmal entspricht das Schweizer Recht einer gesellschaftlich legitimierten Friedensordnung, hielt der Jurist einleitend fest. Nun gibt es sicherlich hier und dort Überregulierungen, also eine sehr hohe oder zu hohe Dichte von Gesetzestexten, Normen und Verordnungen, die sich teilweise parziell widersprechen oder im Extremfall gar ausschliessen – dies ist die eine Seite. Doch wer nach Deregulierung ruft, so Muggli weiter, muss sich bewusst sein, dass Deregulierung auf der anderen Seite letzten Endes das Faustrecht bedeutet. Wenn es keine geltenden Ordnungen mehr gibt, setzt sich das Recht des Stärkeren durch. Das Gesetz hingegen gibt Spielregeln vor, wie wir miteinander und mit der Umwelt umgehen wollen. Normen beschreiben Umstände oder Zustände, wie etwas sein soll. Und was letztlich entscheidend ist für die Akzeptanz dieser Spielregeln, ist, dass sie auf einem gesellschaftlichen Konsens basieren. Eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger muss das Vereinbarte für sinnvoll und damit richtig halten.

Links eine Maschine zur Herstellung von Spieltieren, rechts eine Popcornmaschine, die jeweils ein einzelnes Maiskorn umwandelt. © Schweizer Heimatschutz

27 Regelwerke
Bezüglich der Inventare von Bauten und Anlagen gibt es in der Schweiz nun 27 Rechtsordnungen oder Regelwerke, eine des Bundes und 26 Kantonsordnungen, wobei den Kantonen grosse Bedeutung respektive Verantwortung zukommt. Nach gut schweizerischer föderalistischer Struktur repräsentieren die zahlreichen Ordnungen zur Frage, wie und was inventarisiert oder unter Schutz gestellt werden soll, die Vielfalt der Schweiz mit ihren mannigfaltigen Regionen und Landschaften oder auch Traditionen. Das ist auf der einen Seite eine Stärke. Als Kehrseite der Medaille muss jedoch auf der anderen Seite die Zersplitterung genannt werden. Es herrschen oft Verwirrung oder jedenfalls Unsicherheit angesichts der teils sehr unterschiedlichen Regelwerke in den Kantonen. Eine Architektin, die in einem Nachbarskanton baut, muss sich zuerst einmal mit der anderen, weil benachbart kantonalen Rechtsordnung auseinandersetzen, ein Denkmalpfleger sich in ein durchwegs anderes Regelwerk einarbeiten.

Identität oder «unique selling points»
Während nun – jedenfalls der Erzählung nach – gewisse Bauten auf Universitätsgeländen der USA kurz nach Fertigstellung mit Säure überschüttet worden waren, um den Stein der Häuser älter erscheinen zu lassen und dem Campus historische Patina zu verleihen, werden die Länder Europas ihrem gebauten historischen Erbe zuweilen überdrüssig. Sicherlich verschlingen diese alten Gemäuer oder in jüngerer Zeit auch in die Jahre gekommene Stahl-Glaskonstruktionen oft Tausende von Franken oder Euros. Oder sie stehen Planungen für etwas «Modernerem» im Weg; der Schutz trifft nicht allein Gebautes, auch Natur und Landschaft sind teils geschützt. Da ertönen regelmässig Rufe nach Lockerung der Bestimmungen und der Relevanz von Inventaren, beispielsweise wie in der Parlamentarischen Initiative 12.402, eingereicht vom Zuger Ständerat Joachim Eder. Doch sollten wir nicht vergessen, dass unsere Landschaften und unser gebautes historisches Erbe sinngemäss USP, also «unique selling points» darstellen, etwas Einzigartiges, das es nur einmal und nur «hier» gibt.

Blatt 3 © Schweizer Heimatschutz

Stolz
Wenn ein Ladenbesitzer in der Berner Altstadt etwa über denkmalpflegerische Auflagen schimpft, sollte er nie vergessen, dass die Touristen nicht wegen seiner Ware kommen, sondern wegen der Einzigartigkeit der Berner Lauben und Gassen. Sie sind es, die der Bundeshauptstadt ihre spezifische, unverwechselbare Identität verleihen. Wir können über die Amerikaner und ihre künstlich gealterten Bauten schmunzeln, auch über Schilder entlang von australischen Überlandstrassen, die mit einem Zeichen, das einen Fotoapparat darstellt, auf Ausblicke auf besonders schöne, uns aber vielleicht eher banal erscheinende Landschaften verweisen. Doch ist es genauso absurd, die eigenen Natur- und Kulturschönheiten der Verunstaltung oder gar der Zerstörung preiszugeben – nur, weil wir nicht mehr fähig sind, sie vor lauter Gewohnheit zu sehen und entsprechend wertzuschätzen. Vielmehr sollten wir versuchen stolz zu sein auf all die Schätze, die wir unser Eigen nennen, ohne sie selbst «erarbeitet» zu haben.

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