Spitalplanung: Die «Insel»-Lektionen
Manuel Pestalozzi
14. June 2017
Spital unsentimental – Blick vom Dach des Bettenhauses des Inselspitals in Bern auf den Neubau INO. Bild: Manuel Pestalozzi
Nein, «Berthold» ist nicht «Anna Seiler», trotzdem gibt es zwischen den Spitalentwicklungen von Zürich und Bern Parallelen – und für Zürich die Möglichkeit, von Bern zu lernen.
In der Grossstadt haben Bahnhöfe und Spitäler ähnliche Biographien: Ihre Standorte wurden im 19. Jahrhundert bestimmt, und trotz wachsendem Platzbedarf kommt eine Verschiebung nicht infrage. Bei Bahnhöfen ist mittlerweile bekannt, dass sie sich zusehends eingraben. Die Spitäler quellen auf. Das können sie, denn im 19. Jahrhundert bettete man sie in weitläufige Parkanlagen; so liessen sich Patientinnen und Patienten mit ansteckenden Krankheiten sicher isolieren, und für die Rekonvaleszenz standen Licht, Luft und Sonne wie auch angemessener Raum zur Verfügung.
Moderne Spitäler sind ein aktuelles Thema und sorgen heute mancherorts in Schweizer Städten für Masterpläne und Bauprojekte. Verlangt wird mehr Raum pro Patientin und Patient. Einerseits wegen der technischen Entwicklung, die insbesondere in OP-Bereichen immense Raumhöhen einfordert – man spricht schon von neun Meter-Geschossen. Andererseits wegen gestiegenen Komfortansprüchen, die das Einzelzimmer mit individueller Nasszelle zur Norm werden lassen.
Von der Freiburgerstrasse erstreckt sich das ursprüngliche Areal des Inselspitals nach Norden, bis zur Kuppe des Friedbühl-Hügels. Bild: Insel Gruppe AG
Planungsgrundlage Schicksal
In Zürich soll das Universitätsspital gemeinsam mit Instituten der Eidgenössischen Hochschule Zürich (ETH) und der Universität Zürich zu einem modernen Lern-, Forschungs- und Heilungscluster verdichtet werden. Alle drei Beteiligten besitzen Parzellen auf dem Planungsgebiet Hochschulquartier, das sich östlich des Zentrums über die unterschiedlich steile Hangflanke des Zürichbergs erstreckt. Der medizinische Teil der Planungsunternehmens trägt den Namen «Berthold» und Swiss-Architekts hat schon verschiedentlich darüber berichtet. «Berthold» erinnert an den Zähringer Herzog, der im Mittelalter in der Stadt den ersten Spital gründete.
Den Masterplan für das Inselspital Bern hätte man analog «Anna Seiler» taufen können, man liess es aber bleiben. Die verwitwete, kinderlose Bernburgerin stiftete ebenfalls im Mittelalter über ihr Testament ein Spital mit 13 Betten. Während mehreren hundert Jahren befand es sich auf der so genannten St. Michaels Insel, heute Standort des Bundeshauses Ost. 1885 erfolgte der Umzug auf die Kreuzmatte, westlich des Stadtzentrums, direkt nördlich der damaligen Hauptstrasse nach Freiburg gelegen. Der Name Insel blieb – und er trifft bis heute zu; das Gelände ist zwar durch zwei Ausfallstrassen ausgezeichnet erschlossen, doch das Areal um den Hügel Friedbühl hat einen insularen Charakter. Weiter nördlich liegt der riesige Bremgartenfriedhof, anschliessend folgt das Gleisfeld der westlichen Bahnhofsausfahrt und die Energiezentrale Forsthaus. Die Universität befindet sich in einem anderen Stadtquartier.
Das Schicksal der Geschichte bringt es mit sich, dass man bei der Entwicklung des Inselspitals nach innen «unter sich» bleibt. Kein Schicksal ist die gute politische Vorarbeit. Zuerst beschloss die Kantonsregierung Ende 2009 den Zusammenschluss des Inselspitals mit den Spitälern der Spital Netz Bern AG, 2016 erfolgte die Gründung der Inselgruppe, der noch weitere Spitäler der Region angehören. Der Perimeter des aktuellen Masterplans umfasst neben dem ursprünglichen Areal auch später belegte Gebiete südlich der Freiburgerstrasse und im Westen die Baugruppe, mit dem bekannten Loryspital, von den Architekten Salvisberg & Brechbühl von 1927-29 realisiert und heute als Rehabilitationszentrum genutzt. Aufgrund der Lage im Stadtgefüge und der «Monokultur» hat das Areal die Möglichkeit einer Entwicklung ohne Interferenzen und auch ohne Anwohnerinnen und Anwohner gross zu stören.
Blick auf das Spitalareal von Westen im Jahr 2005. Am unteren Bildrand ist das Loryspital von Salvisberg & Brechbühl zu erkennen, rechts der Mitte die für Dramatik sorgende Frauenklinik. Bild: Insel Gruppe AG
Pragmatik herrscht vor
Im Gegensatz zum Geschehen in Zürichs Hochschulgebiet ist in Bern ein steter Fortschritt bei der Weiterentwicklung des Spitalareals zu konstatieren. Nach zwölfjähriger Bauzeit wurde im Mai 2012 das neue Intensivbehandlungs-, Notfall- und Operationszentrum (INO) eröffnet. Es ersetzt Operationstrakte aus den 1960er und 1970er-Jahren und bildet das eigentliche «Herz» der Gesamtanlage. Nach der Schaffung dieser vollendeten Tatsachen lieferte man einen Masterplan für das gesamte Areal gewissermassen nach: In einer Volksabstimmung wurde 2015 die «Überbauungsordnung (UeO) Insel Areal III» angenommen. Sie geht von einer Nutzfläche von rund 600‘000 Quadratmetern aus, scheidet Baufelder aus und bezeichnet geschützte Bauten und Gartenanlagen. Diese Objekte werden unter dem Bergiff Pocket Park gehandelt und sind als grünes Archipel auf der Insel regelmässig über das Areal verteilt.
Anders als Zürich hat Bern das Glück, dass keine bestehenden zentralen Grossbauten die Furcht vor Rekursen aus Heimatschutzkreisen auslösen. Offenbar hat man Altbauten stets zeitig abgerissen oder mit weiser Voraussicht darauf geachtet, dass man sich keine kunsthistorisch wertvolle Juwelen einhandelte, um die man herumbauen muss, wobei das in Zürich angemeldete Rochadeflächenproblem, für die man den Bestand während der Bautätigkeiten braucht, offenbar trotzdem gelöst werden kann. Das aktuelle zentrale Bettenhaus, von 1961 – 1973 errichtet und lange das Wahrzeichen der Gesamtanlage, soll in einigen Jahren abgerissen und ersetzt werden, nach seinem Erhalt kräht kein Hahn.
Die Überbauungsordnung (UeO) Insel Areal III zeigt die Baufelder beidseits der Freiburgstrasse. Grün gekennzeichnet sind die Pocket Park-Flächen. Bild www.insel.ch
Und die Architektur?
Sowohl Zürich als auch Bern beschäftigten über Jahrzehnte «Hausarchitekten». In Zürich war das Steigerpartner (heute Steigerconcept), hervorgegangen aus der Büropartnerschaft Haefeli Moser Steiger, welche das heute geschützte Unispital in den 1940er und 1950er-Jahren realisierten. In Bern war es das Büro Itten & Brechbühl, hervorgegangen aus der Büropartnerschaft Salvisberg & Brechbühl, das mitunter für das erwähnte Bettenhaus verantwortlich gezeichnet hatte. Die offenbar aus praktischen und Kompetenzgründen angestrebte Kontinuität besteht in Bern fort, auch der neue INO-Trakt stammt von diesem Büro. Dies bestätigt den Verdacht, dass man der Architektur im Sinne des freien Autoren-/Autorinnenentwurfs im Bereich Spitalbau eher mit Misstrauen begegnet und pragmatische «Macher» bevorzugt. Man will rationelle Raumkonzepte, welche den Betrieb erleichtern und der Technik Ellbogenfreiheit gewährt. Diese architekturkritische Haltung bekräftigte eine Führung durchs Areal am Medientag der Schweizerischen Vereinigung Beratender Ingenieurunternehmungen (usic). Es sind die Ingenieurunternehmungen, die Tunnels zwischen den einzelnen Baufeldern graben und die Medienversorgung sicherstellen und somit den Ausschlag für den Erfolg geben. Dies war jedenfalls der Eindruck, welcher am usic-Event vermittelt wurde.
Und ausgerechnet Bern holte sich mit hochstehender Architektur eine blutige Nase! Die Rede ist von der Frauenklinik, einem Solitär südlich der Freiburgstrasse, basierend auf einem Wettbewerbsprojekt von Bétrix & Consolascio aus dem Jahr 1983. Schon ihre Entstehungsgeschichte war gemäss Berner Zeitung eine Zangengeburt: 1985 wurde ein erster Projektierungskredit abgelehnt. Ein Jahr, nachdem das Volk 1993 schliesslich doch einen 111-Millionen-Kredit bewilligt hatte, merkte der Bauinspektor, dass wegen der Höhe des Baus eine Änderung der Überbauungsordnung nötig wurde. 1995 zwangen die knappen Finanzen den Kanton dazu, das oberste Stockwerk wegzulassen und die Geometrie des Baus zu vereinfachen. 2002 fand schliesslich die Eröffnung statt. Die «kühle» Architektur stiess bei Patientinnen auf Kritik. 2007 stellten Baufachleute schwere Mängel in der Tragkonstruktion fest. 2013 stürzte eine Treppe ein – gemäss Berner Zeitung als Folge eines Baumangels. Es besteht auch keine Erdbebensicherheit. 2014 war zu vernehmen, der Regierungsstatthalter gebe grünes Licht für den Bau eines temporären Ersatzgebäudes, das die Insel für die Sanierung der Frauenklinik erstellen will. Der Bau solle 40 Millionen Franken kosten – und müsste 2024 wieder abgerissen werden. Die veranschlagten Reparaturkosten stiegen derweil stetig. Die jüngste Nachricht zu dieser traurigen Geschichte stammt vom 29. Mai dieses Jahres: Die Insel-Gruppe prüfe derzeit die Option, das Frauenspital in einem Neubau auf dem Insel-Areal unterzubringen. In diesem Fall könne der erst 2002 eröffneten Frauenklinik der Abbruch drohen, meldete der «Bund».
Auch dieser Spitalarchitektur Super-GAU sollte in Zürich wahrgenommen und zu denken geben. Schliesslich träumt man in der Limmatstadt davon, dass sich Spitzenmedizin und Spitzenarchitektur in Harmonie zu einem zeitlosen, geschmackvollen Standortknüller vereinen und etwas Sublimes entstehen lassen. Besser wäre es, sich in diesem Zusammenhang mit den Erscheinungsformen einer neuen, angemessenen Sachlichkeit des 21. Jahrhunderts ernsthaft auseinanderzusetzen.