Krisenarchitektur und Möbelkollektion
Jenny Keller
11. May 2016
Teile der Carta-Kollektion im Tamedia-Hauptsitz in Zürich. Architektur und Möbeldesign von Shigeru Ban. Bild: wb form
In Krisengebieten auf der ganzen Welt hat Shigeru Ban Notunterkünfte aus Papier und Karton erstellt; nun wird seine Möbelkollektion aus Kartonröhren vom Schweizer Möbelhersteller wb form auf den Markt gebracht. Aus diesem Anlass konnten wir dem Architekten schriftlich ein paar Fragen stellen.
Lange bevor Nachhaltigkeit zum Trend-Wort erklärt wurde, hat der japanische Architekt Shigeru Ban begonnen, mit umweltfreundlichen – und ungewöhnlichen – Baumaterialien wie Kartonröhren und Papier zu experimentieren.
Shigeru Ban wurde 1957 in Tokio geboren. Nach dem Architekturstudium in Los Angeles und New York gründete er 1985 sein eigenes Studio Shigeru Ban Architects in seiner Heimatstadt. Er verwirklichte dort vor allem private Aufträge, minimalistische Stadthäuser von eleganter Erscheinung, die von der Tradition japanischer Architektur beeinflusst waren. Einem internationalen Publikum wurde er bekannt, als er Notunterkünfte und eine Kirche für die Erdbebenopfer in Kobe (1995) aus Kartonröhren erstellte. Das Material – aber auch die «Krisenarchitektur» – sollte ihn nicht mehr loslassen. In der Schweiz wird nach Plänen von Shigeru Ban zurzeit der neue Hauptsitz von Swatch und Omega in Holzbauweise erstellt, und bereits 2013 eröffnete das Tamedia-Gebäude in Zürich. Er gewann den Pritzker-Preis 2014 und lehrt an der Kyoto University of Art and Design.
Von welchem Architekt oder Ingenieur ist ihre eigene Arbeit beeinflusst worden?
Alvar Aaltos Werk hat mich gelehrt, wie ein Architekt lokale und originale Materialien verwenden kann, um eine Harmonie mit der Umgebung herzustellen. Anhand der Arbeiten von Richard Buckminster Fuller und Frei Otto habe ich gelernt, über Struktur und Material nachzudenken.
Wann begannen sie mit Kartonröhren zu arbeiten?
Die Alvar-Aalto-Ausstellung für das Museum of Modern Art (MoMA) in Tokio 1986 war eines der ersten Projekte, die ich als junger Architekt gemacht habe. Für eine frühere Ausstellung (über Emilio Ambasz) benutzte ich Stoffbahnen, und es blieben viele Kartonröhren übrig. Weil ich sie nicht wegwerfen wollte, brachte ich sie in mein Büro. Um die Atmosphäre von Alvar Aalto in die Ausstellung zu transportieren, dachte ich zuerst an Sperrholz, doch das Budget war klein, die Ausstellung dauerte nur drei Wochen, und ich wollte kein Holz verschwenden für diese kurze Zeit. Bereits früher ist mir aufgefallen, wie stabil Faxrollen sind, so dachte ich, ich könnte an Stelle von Sperrholz die Kartonrollen für die Ausstellung verwenden. Um 1988 herum begann ich dann, die Möglichkeiten von Kartonröhren als Konstruktionsmaterial zu erforschen. Dafür konsultierte ich Professor Gengo Matsui. Er war Professor am Departement für Architektur der Waseda Universität in Tokio, spezialisiert auf Baustatik und der innovativste Statiker Japans.
«Paper House», Yamanaka-See, Yamanashi, Japan, 1995. Bild: wb form
Was sind die Vor- und Nachteile von Kartonröhren als Baumaterial?
Die Vorteile sind, dass es nicht teuer, dass es leicht und überall erhältlich ist. Die Nachteile liegen aber darin, dass es sehr lange geht, bis man die Bewilligungen erhält, mit Kartonröhren zu bauen.
Nach den ersten Experimenten mit dem Baumaterial für temporäre Gebäude baute Shigeru Ban 1995 das erste dauerhafte Wohnhaus aus Kartonröhren – sein eigenes Wochenendhaus, das «Paper House» am Yamanaka-See in Japan. Ebenfalls 1995 ereignete sich zudem das Erdbeben in Kobe, das 300'000 Leute ohne Obdach hinterliess. Für die eingestürzte katholische Kirche von Kobe baute Shigeru Ban ein temporäres Gotteshaus aus Kartonröhren, mit dem er weltweit bekannt wurde. Auch Notunterkünfte wurden von Ban erstellt. Das Fundament bestand aus gespendeten Bierharassen, die mit Sandsäcken beschwert wurden, und eine solche Unterkunft von 52 Quadratmetern kostete weniger als 2'000 US-Dollar. In der Folge erreichten ihn weitere Aufträge für Notunterkünfte aus Kartonröhren aus Krisengebieten der ganzen Welt.
Das Tamedia-Gebäude in Zürich, das sie 2013 fertiggestellt haben, ist in Holzbauweise erstellt. Ein unübliches Baumaterial für ein mehrstöckiges Bürogebäude in der Stadt. Weshalb ist es aus Holz gebaut?
Also erstens einmal ist es für mich nicht unüblich, Holz als Konstruktionsmaterial zu verwenden. Ich bevorzuge Materialien, die gut altern, insbesondere im Wohnungsbau. Daneben habe ich immer gerne Holz verwendet und wollte ein Projekt bauen, das man nur in Holz erstellen kann. Holz ist ein einmaliges Material, das recycelt werden kann und CO2 absorbiert. Es interessiert mich zudem, wie wir Materialien, die eigentlich als schwach oder unpassend angesehen werden, als Konstruktionsmaterial verwenden können.
Im Tamedia-Gebäude stehen seit 2013 Möbel aus Kartonröhren. Sind sie auch Teil der «Carta-Kollektion»?
Diese Möbel sind ursprünglich 1994 für die Miyake-Design-Studio-Galerie in Tokio entworfen worden, und sie wurden bereits einmal von einem japanischen Hersteller vertrieben.
Was passiert, wenn ich meinen Kaffee auf einem Stuhl aus Kartonröhren verschütte?
Nichts, das Material ist wasserabweisend.
Wie wird das Material wasserabweisend und feuerbeständig?
Die Technik ist banal. Schliesslich gibt es auch wasserabweisendes Papier oder feuerbeständige Tapeten.
Die Möbel der «Carta-Kollektion» im Tamedia-Haus. Bild: wb form
In Biel wird zurzeit das Hauptgebäude für Swatch und für Omega nach Ihren Plänen erstellt. Wie ist es, in der Schweiz zu arbeiten?
Die Schweiz ist das Land in Europa, das in Sachen Holzbauweise am weitesten entwickelt ist. Es gibt ausserdem viele grossartige Ingenieure, die auf Holzbauweise spezialisiert sind, und das Ausbildungssystem funktioniert sehr gut. Mit der Hilfe der Höheren Fachschule Holz in Biel konnte ich meine Ideen für die Holzkonstruktion des Centre Pompidou Metz verwirklichen, und mein Architekturbüro arbeitet immer noch mit dem Schweizer Architekten Hermann Blumer zusammen. Daneben ist das Bauwesen in der Schweiz besser entwickelt als in anderen europäischen Ländern. Man ist in der Ausführung sehr kooperativ, wenn es um die Verwirklichung eines architektonischen Entwurfs geht. Eine sehr komfortable Situation für einen Architekten – die Situation in Frankreich ist da zum Beispiel eine ganz andere.
2014 haben Sie die höchste Auszeichnung, die ein Architekt erhalten kann, den Pritzker-Preis, erhalten. Hat sich Ihr Leben als Architekt seitdem verändert?
Nein, ich denke nicht. Ich betrachte diesen Preis als Ansporn dafür, so weiterzumachen wie voher – so wie ich war und wo ich angefangen habe. Deshalb hat sich mein Leben seither nicht verändert.
Dieser Text erschien ursprünglich in Bilanz Homes, Ausgabe Mai 2016