Gespiegeltes Universum
Susanna Koeberle
4. May 2023
Die Installation «Rhythmischer Raum. Die Zypressen» stellt die fiktive Wohnung von Félix Vallotton nach. (Foto: Stefan Altenburger © Musée d’art et d’histoire de Genève)
Der Schweizer Künstler Ugo Rondinone inszeniert im Musée d’art et d’histoire in Genf einen Dialog zwischen über 500 Stücken aus der Sammlung des enzyklopädischen Museums und eigenen Arbeiten.
Sonne und Mond sind nicht nur Gestirne, die alle kennen, es sind auch zwei universelle Symbole, die auf unterschiedlichste Arten in Religion, Literatur, Musik und Kunst Eingang gefunden haben. Dass das gegensätzliche Paar im Titel der Ausstellung, die Ugo Rondinone (*1964) im Musée d’art et d’histoire (MAH) in Genf ausrichtet, vorkommt, ist von Bedeutung. Dem Schweizer Künstler geht es auch darum, Kunst aus ihrem Elfenbeinturm zu befreien. Er möchte, dass alle sich daran erfreuen können.
Die Ausstellung «when the sun goes down and the moon comes up» ist die dritte Carte blanche, die Marc-Olivier Wahler einem Künstler gibt. Damit möchte der seit Ende 2019 als Direktor des MAH amtierende Kunsthistoriker das Museum für neue Fragen und Sichtweisen öffnen. Diesem Ansinnen kommt Rondinone in mehrfacher Hinsicht nach: Er hat dieses besondere Ausstellungsformat als Parcours konzipiert, der individuell begangen werden kann und dadurch verschiedene Lesarten erlaubt. Der Künstler schafft es, den Rundgang durch die Räume zu einer Erfahrung zu machen, die mehr als «nur» ein Kunstgenuss ist. Mit seiner räumlichen und inhaltlichen Relektüre der Museumsräume und der dazugehörenden Artefakte kreiert er nicht nur besondere Atmosphären, er regt auch zum Nachdenken über den Stellenwert von Kunstobjekten und ihre Musealisierung an. Genau genommen werden nämlich in Ugo Rondinones Inszenierung die Räume selbst zu Ausstellungsgegenständen.
Die Sonne geht auf: «Rhythmischer Raum. Die Eröffnung» (Foto: Stefan Altenburger © Musée d’art et d’histoire de Genève)
Das 1910 fertiggestellte Museum hat der Schweizer Architekt Marc Camoletti (1857–1940) entworfen. Das von zwei Boulevards gesäumte Gebäude besteht aus einem grossen Viereck, das um einen quadratischen Hof herum angelegt ist; es ist im Schweizer Inventar der Kulturgüter von nationaler Bedeutung eingetragen. Um nationale Identität geht es unter anderem auch in der Ausstellung: Denn Rondinone nutzt die bedeutende Sammlung von Werken von Ferdinand Hodler (1853–1918) und Félix Vallotton (1865–1925) – kunsthistorisch betrachtet zwei Schweizer Nationalheilige – im MAH, um die Frage zu stellen, was denn ein Schweizer Künstler sei. Das tut einer, der selbst seit vielen Jahren im Ausland lebt und eigentlich eher als internationaler Star der Kunstwelt denn als typisch helvetischer Künstler bekannt ist. Aber das ist interessanterweise das Schicksal vieler Schweizer Kulturschaffender, ein Thema, das etwa der Schriftsteller Paul Nizon 1970 mit seiner Aufsatzsammlung «Diskurs in der Enge» untersuchte. Anhand der Werke von Hodler und Vallotton, zweier Vertreter der Romantik und des Symbolismus also, rückt ihr Nachfahre Rondinone Sichtweisen auf universelle Themen wie Natur, Mensch, Vergänglichkeit, Zeit oder auch Mann und Frau in ein neues Licht.
Was sagen uns die nackten Frauen Vallottons, die uns so skeptisch anschauen? Oder was machen wir mit den mehr als lebensgrossen Soldaten Hodlers, die uns im ersten – oder je nach Rundgang im letzten Saal – begegnen? Rondinones Inszenierung ist zugleich Hommage an das Werk seiner Kollegen und kritisches Hinterfragen von gängigen, in der abendländischen Kunst verewigten Mustern. Überhaupt fällt im MAH auf, wie stark sich der Schweizer Künstler in seinem Werk auf Bestehendes bezieht. Ihm geht es nicht um die Neuerfindung von Kunst, sondern um ihr emotionales Potenzial, das er mit seinen Arbeiten aktivieren möchte. Seine meist poppig-farbigen Werkzyklen, an denen er seit den 1980er-Jahren arbeitet, bedienen sich deswegen ganz unverblümt in der Kunstgeschichte, doch sie schaffen durch neue Inszenierungen und Assemblagen immer wieder erfrischend unkonventionelle Zwiegespräche mit unterschiedlichen Umgebungen. Der Künstler ist ein Meister der räumlichen Inszenierung, das hat er wiederholt als Kurator bewiesen. Zu nennen sind die beiden Ausstellungen «I love John Giorno», die er seinem langjährigen Lebenspartner widmete, und seine Interieurs – zum Beispiel in seinem Haus in Würenlos, das er in Zusammenarbeit mit Andreas Fuhrimann und Gabrielle Hächler entwarf.
Im Saal «Rhythmischer Raum. Der Wasserfall» können Besucher*innen mehreren Werken von Félix Vallotton auf Augenhöhe begegnen. (Foto: Stefan Altenburger © Musée d’art et d’histoire de Genève)
Für Rondinone sind Räume keine toten Hüllen für Objekte, viel eher leben sie von Raumstimmungen, von verborgenen Untertönen, von vergessenen Geschichten, von vielerlei Klängen, Farben und Gerüchen. Genau mit dieser Vielschichtigkeit arbeitet der Künstler auch im MAH. Er betätigt sich gleichsam als Regisseur filmreifer Kulissen, ihre Doppelbödigkeit eingeschlossen. Dabei geschehen die Inszenierungen nicht bloss um ihrer selbst willen, sie nehmen präzise Bezug auf die Funktion der Räume. Zugleich nehmen sie sich mit schlafwandlerischer Sicherheit auch ihre Freiheiten. Die Freiheit etwa, gängige Perspektiven umzukippen und unsere Wahrnehmung gezielt zu manipulieren. Wiederkehrende Motive in Rondinones Werk sind architektonischer Natur, etwa das Fenster oder die Türe. Geschickt nutzt er unsere Erwartungshaltung diese funktionalen Elemente betreffend und polt sie gleichsam um. Was genau sehen wir durch Fenster und wohin führen uns Türen?
Wir werden Protagonist*innen einer Reise durch unsichere Gefilde. Die Fenstergläser des Museums sind wiederholt mit farbigen Folien bedeckt, wobei das nicht immer gleich auffällt. Manchmal erzeugen die farbigen Gläser auch nur subtile optische Verschiebungen, sie kreieren Atmosphären, die primär auf einer emotionalen Ebene operieren. Zuweilen ist die Message hingegen offensichtlich: Etwa im Waffenraum, wo die Vitrinen mit den alten Waffen – sie stammen aus einem Konflikt zwischen Genfern und Savoyarden – schwarz gefärbt sind. Riesige schwarz-graue Fahnen tragen zur düsteren Stimmung bei, und es wird schnell klar: Der Künstler ist kein Freund von kriegerischen Handlungen. Wobei, wer ist das schon? Umgekehrt: Wenn alle gegen Krieg wären, dann würden sich viele nationalistische und männlich dominierte Narrative nicht so hartnäckig halten, wie sie dies eben doch tun.
Im Saal «Rhythmischer Raum. Bevor eine Unsichtbare Hand die Tür öffnet» sind mehrere Uhren aus der Sammlung des MAH ausgestellt. Was geschieht, wenn diese Alltagsobjekte im Museum zu Artefakten werden, ist eine Frage, der Rondinone nachgeht. (Foto: Stefan Altenburger © Musée d’art et d’histoire de Genève)
Einen bewusst gesetzten Kontrapunkt dazu bilden im selben Raum die kleinen Landschaftsbilder und Stillleben von Félix Vallotton, der selbst Pazifist und Anarchist gewesen sein soll. Das braucht man als Besucherin nicht zwingend zu wissen, um die Wirkung dieses Raums zu spüren. Dass mitten im Raum ein Clown liegt, verschärft die Kritik des Künstlers noch. Was gibt es Groteskeres als Krieg, will er uns wohl durch die Blume mitteilen. Aber schläft der Clown nur und träumt oder ist er vielleicht sogar tot? All diese Fragen werden nicht beantwortet, sondern den Besuchenden auf der weiteren Wanderung durch Rondinones neu inszeniertes Universum mitgegeben. Und wenn die Sonne untergeht, gibt der Mond seinen Auftritt. Das Licht der Sonne, Symbol für Wahrheit – aber welche Wahrheit? –, macht einen Abgang. Dunkles steht uns bevor: Die Liebe und der Tod etwa. Das sind Themen, die auch Ugo Rondinone umtreiben.
Ein kleiner Raum ist Zeichnungen gewidmet, die Ferdinand Hodler von seiner sterbenden Geliebten Valentine Godé-Darel gemacht hat. Die Intimität des Raums reflektiert Rondinones eigenen Umgang mit Tod und Trauer – sein Lebensgefährte John Giorno starb 2019. Doch die Bilder werfen auch Fragen auf: Wie liest man heute die Darstellungen einer sterbenden Muse? Haben Frauen nur als Tote ein Recht auf Eingang in den Kunstkanon? Oder als Nackte? Auch hier zeigt sich Rondinones ehrgeiziges Vorhaben, mit einer einzigen Ausstellung die Totalität menschlicher Regungen sowie zugleich Fragen von planetarischer und gesellschaftlicher Relevanz aufzunehmen. Mit dem Mondlicht – wie sein Gegenpart, die Sonne, wird der Mond durch eine fünf Meter hohe kreisförmige Skulptur aus Bronze eingeführt – tauchen wir tief in die nächtliche Seite der Dinge ein.
Etwa, wenn wir in der Ausstellung den gespiegelten fiktiven Rekonstruktionen von Wohnungen der beiden Künstler betreten. Alle Objekte und Kunstwerke stammen aus der Sammlung des MAH und wurden in Zusammenarbeit mit dem Innenarchitekten Frédéric Jardin ausgesucht. Die in Pink oder Grün gehaltenen Räume führen uns auch in die Schlafgemächer der Künstler; und wer kurz austreten muss, der kann quasi ihr stilles Örtchen benutzen – hinter den inszenierten Bädern befinden sich nämlich gleich die Museumstoiletten. Wer sich Zeit für genaues Hinsehen nimmt, könnte sogar entdecken, dass sich jeder einzelne Gegenstand doppelt vorfindet, je in Vallottons Gemächern und in denjenigen seines Kollegen Hodler.
Das Gegenstück zur Wohnung von Vallotton bildet der grüne Raum, der die Wohnung seines Kollegen Hodler imaginiert. Die Arbeit trägt den Titel «Rhythmischer Raum. Weg». (Foto: Stefan Altenburger © Musée d’art et d’histoire de Genève)
Nach weiteren Überraschungen – wie gesagt, auch als Dramaturg brilliert Rondinone – gewährt uns der Künstler immer wieder Zeit zum Verschnaufen. Ein Beispiel dafür ist der Saal mit dem Titel «Rhythmischer Raum. Offener Himmel» – alle Räume haben Namen –, in dem mehrere seiner Pferdeskulpturen aus Glas elf Thunersee-Ansichten Hodlers gegenüberstehen. Die Analogie der beiden Werkgruppen geschieht zum einen auf einer rein farblichen Ebene. Auch formal nehmen die Tierkörper durch eine Linie in ihrem Inneren auf die Horizonte der Gemälde Bezug. Dieser Dialog zwischen den Elementen Luft und Wasser wird durch die Arbeit «love invents us», den gelblich gefärbten Gläsern der Fenster, intensiviert.
Alles entspringe der Liebe, sagt uns Rondinone, sie erst mache uns zu dem, was wir sind. Mit Liebe ist auch diejenige zur Erde im ganz materiellen Sinn gemeint, auch das wird in den Installationen und vielen Referenzen immer wieder deutlich. Ugo Rondinone schafft packende und zugleich subtile Momente, in denen wir selbst zu Sternen oder Planeten werden, auf freien Umlaufbahnen um unbekannte Zentren kreisend. In «when the sun goes down and the moon comes up» kreuzen sich viele Blicke: zwischen Epochen, Menschen und Räumen. Es ist nicht selbstverständlich, dass so ambitionierte Projekte am Ende funktionieren. Umso grösser ist die Freude über das Gelingen eines solchen Unterfangens.