Gelebte Wertschätzung

steigerspielmann
17. October 2024
Die Farbigkeit des Umbaus bezieht sich auf andere Häuser im Dorf. Die Dachform wurde verändert, um mehr Platz im Inneren und gedeckte Aussenräume zu schaffen. (Foto: Ernst Kehrli)
Herr Steiger, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Die Herausforderung bestand darin, einen Umgang mit einem Wohnhaus aus den 1970er-Jahren in einem ländlich geprägten Bergtal zu finden, das grösstenteils von Gebäuden umgeben ist, die von den 70er- bis in 90er-Jahre gebaut wurden. Anstatt das Haus abzubrechen und einen Ersatzneubau zu errichten, konnten wir die Bauherrschaft überzeugen, dass ihre Bedürfnisse in einem Umbau realisierbar sind. Auf diese Weise reduzierten sich die Eingriffe auf die Erneuerung des Daches und die Erweiterung des Aussenraumes. Durch die neue Dachform konnten die bestehenden Räume vergrössert werden: Die Drehung des Firstes um 90 Grad schafft zusätzlichen Raum für drei Schlafzimmer und ein Bad.

Uns ist grundsätzlich ein wertschätzender Umgang mit der bestehenden Bausubstanz wichtig. Dabei werden nicht nur Bauteile und Materialien gespart, sondern auch Energie und Geld, während man gleichzeitig die Geschichte bewahrt – was will man mehr?

Die Themen für die Gestaltung finden sich in der Architektursprache der 70er-Jahre. So besitzt das Haus neu unter anderem Spitzlukarnen und geometrische Verzierungen. (Foto: Ernst Kehrli)
Die Laube als Aussenraum ist ein für die Gegend vertrautes architektonisches Element. Nebst der Steuerung des Lichteinfalls ins Gebäude bietet sie einen geborgenen Aufenthaltsbereich für die Familie.  (Foto: Ernst Kehrli)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Das bestehende Wohnhaus wurde wie gesagt in den 70er-Jahren gebaut. Unser Ziel war es, einen Ausdruck zu finden, der architektonische Themen aus dieser Zeit aufnimmt und neu interpretiert. So entstanden unter anderem ein asymmetrisches Dach mit Spitzlukarnen und Bauteile mit sich wiederholenden geometrischen (Zier)Formen. 

Das Bergdorf Melchtal liegt in einem von bäuerlichen Bauten geprägten Tal. Für die Erweiterung der geschützten Aussenräume wurde die Laube als typisches Merkmal dieser Gebäude aufgegriffen. Im Sommer sorgt sie für Schatten und verhindert konstruktiv die Überhitzung der dahinterliegenden Räume. Im Winter kann die tief stehende Sonne ins Gebäude strahlen und es erwärmen. Dabei war uns wichtig, dass der Aussenraum an eine traditionelle Laube erinnert, aber trotzdem einen eigenständigen Ausdruck bekommt. 

Die Dreiecksfenster in den Kinderzimmern eröffnen eindrucksvolle Blicke in die umgebende Bergwelt. (Foto: Ernst Kehrli)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzenden den Entwurf beeinflusst?


Da der Bauherr im Haus aufgewachsen ist, kannte er die «Beschwerden» des Hauses und konnte sie präzise benennen. Unter anderem war ihm aufgefallen, dass die Familie sich nur zweimal zum gemeinsamen Essen auf dem Balkon getroffen hatte. Durch eine sorgfältige Analyse des Hauses und des Ortes konnten wir gemeinsam mit der Bauherrschaft die Gründe für diese und weitere kleinere «Krankheiten» feststellen und bewerten. Ausgehend von diesen Erkenntnissen starteten wir mit der Entwurfsarbeit. Unser Ziel war – um bei den Begrifflichkeiten der Medizin zu bleiben –, die Beschwerden des Patienten zu beheben und seine Fähigkeiten zu verbessern.

Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


Wir sind interessiert an Lösungen, bei denen das handwerkliche Können einer Person sichtbar und spürbar wird. In den letzten Jahren haben wir bemerkt, dass dem Handwerk zu wenig Wertschätzung geschenkt wird. Aus diesem Grund haben wir alle Handwerkerinnen und Handwerker während des gesamten Bauprozesses auf der Baustelle und im Werk fotografisch begleitet. Entstanden ist eine Fotoserie über das Handwerk.

Uns ist es ein Anliegen, dass unsere bisherigen und künftigen Bauherrschaften ihr Bewusstsein für Materialien, deren Herstellung und Verarbeitung schärfen. Denn dieses Verständnis schafft eine sinnliche Verbindung der Bauherrschaft mit ihrem Projekt und fördert die Wertschätzung gegenüber dem Handwerk. 

Auch im Inneren wurde die Architektursprache der 1970er-Jahre aufgegriffen und neu interpretiert. Dreieckige Fugen rhythmisieren die neuen Oberflächen aus Holz. (Foto: Ernst Kehrli)
Sichtbare Schwellenhölzer bilden den Übergang vom bestehenden Massivbau zum neuen Holzbau. (Foto: Ernst Kehrli)
Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?


Das bestehende Dach wurde damals wie heute von der ortsansässigen Zimmerei ausgeführt, die nach wie vor ein Familienbetrieb ist. Beim Rückbau wurden die Sparren sorgfältig ausgebaut, die Nägel aus ihnen entfernt und ihre Dimensionen angepasst, um sie dann als Ständer für die neuen Innenwände im Dachgeschoss wiederzuverwenden. Aufgerichtet wurde das Dachgerüst auf traditionelle Art und Weise. Eine schöne Anekdote, die viel über das Projekt und die Beteiligten aussagt: Der über 80 Jahre alte Seniorchef der Zimmerei half beim Rückbau und der Aufrichte tatkräftig mit. 

Der Zimmermann beim Abbinden der Hölzer für die Dachkonstruktion (Foto: Ernst Kehrli)
Die Dachkonstruktion besteht aus neuen und wiederverwendeten Hölzern. (Foto: Ernst Kehrli)
Situation (© steigerspielmann)
Grundrisse von links nach rechts: Erdgeschoss und Dachgeschoss (© steigerspielmann)
Schnitt (© steigerspielmann)
Bauwerk 
Erweiterung Wohnhaus
 
Standort
Fruttstrasse 8, 6067 Melchtal
 
Nutzung
Wohnhaus
 
Auftragsart
Direktauftrag
 
Bauherrschaft
Privat
 
Architektur
steigerspielmann gmbh – Atelier für Architektur, Sarnen
Seraina Jörimann, Fiona Ballif, Yannic Lisske, Corinne Spielmann und Sämy Steiger
 
Fertigstellung 
2024
 
Massgeblich beteiligte Unternehmer
Zimmermann: Widli Holzbau GmbH, Melchtal
Spenglerarbeiten: Spenglerei, Bedachung Melk Widli, Melchtal
Photovoltaik und Elektriker: EWO Gebäudetechnik AG, Kerns
Schreinerarbeiten: Schreinerei Walter Spichtig AG, Sachseln
Sanitär und Heizung: Reinhard Haustechnik AG, Sarnen
 
Fotos
Ernst Kehrli, Luzern

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