Architekt Tobias Auch: «Zukunftsfähige Mobilitätskonzepte werden sich nicht von selbst durchsetzen»
Redaktion Swiss-Architects
24. August 2022
Foto: Nadia Bendinelli
Das Zürcher Architekturbüro atelier ww rät seinen Auftraggebern, Ladeplätze für Elektroautos als Teil einer nachhaltigen Architektur zu bauen. Und doch sieht Geschäftsleitungsmitglied Tobias Auch die Technologie kritisch. Sie besitze zwar grosses Potenzial, sagt er, doch sei noch nicht die Lösung für eine umweltfreundliche Mobilität.
Tobias, konntest du bereits eigene Erfahrungen mit Elektroautos sammeln?
Ich fahre ein Audi-Modell mit Hybridantrieb. Ökologisch betrachtet ist das eigentlich Unsinn: Bei der Herstellung meines Autos wurde für gleich zwei Motoren graue Energie aufgewendet, und wenn ich elektrisch fahre, chauffiere ich einen mehrere hundert Kilogramm schweren Verbrennungsmotor herum.
Warum hast du dich trotzdem nicht für einen Wagen mit reinem Elektroantrieb entschieden?
In der Stadt nutze ich mein Auto kaum, lieber bewege ich mich mit dem Elektro-Trottinett fort. Muss ich zwischen grossen Städten pendeln, nutze ich gerne den Zug. Mit dem Auto fahre ich, wenn ich verreise oder auf dem Land zu tun habe. Und das ist der Knackpunkt: Zwar ist die Ladeinfrastruktur in Mitteleuropa mittlerweile recht gut ausgebaut, doch wenn ich in die Toskana reisen möchte oder gar nach Neapel, wird es schwierig. Hinzu kommt, dass der Andrang auf die Ladeplätze alsbald nach oben schnellen wird. Ich bin unsicher, ob der Ausbau der Infrastruktur mit der steigenden Nachfrage wird Schritt halten können. Noch gibt es verhältnismässig wenig Elektroautos auf Europas Strassen. Doch aufgrund der gesetzlichen Vorgaben wird sich das Bild in kürzester Zeit völlig verändern. Die EU beispielsweise diskutiert, ob nach 2035 noch Autos mit Verbrennungsmotor zugelassen werden dürfen.
Was bedeutet die rasante Entwicklung der Elektromobilität für die Architektur?
Die Bauwirtschaft kann dieses Tempo nicht mitgehen. Planung und Bau von neuen Gebäuden nehmen viel Zeit in Anspruch – zwischen dem Beginn der Planungen und der Fertigstellung eines Bauwerks liegen oft Jahre. Auch lassen sich Bestandsbauten nicht so schnell im grossen Stil umrüsten. Hinzu kommt, dass viele Bauherren und Eigentümer der neuen Technologie noch mit Skepsis begegnen. Ich spreche aus Erfahrung: Bevor ich eine Wallbox installieren durfte, um mein Auto laden zu können, musste ich viel Überzeugungsarbeit leisten. So konnte ich die ersten Monate kaum elektrisch fahren. Glücklicherweise habe ich mir keinen vollelektrischen Wagen gekauft, denn sonst hätte ich jeden Abend eine freie öffentliche Ladestation suchen und einen halben Kilometer oder mehr nach Hause laufen müssen. So bereitet Elektromobilität wenig Freude. Denn machen wir uns nichts vor: Wir Menschen sind bequem. Wir überlegen uns zweimal, ob uns die ökologischen Vorteile die Unannehmlichkeiten und den Zeitaufwand auf Dauer tatsächlich wert sind. Aber dieses Verhalten sollten wir alle überdenken und anpassen. Da nehme ich mich auch an der eigenen Nase.
Foto: Nadia Bendinelli
Wie stehen eure Auftraggeber zum Thema Elektromobilität?
Man kann sagen, es gibt drei Arten von Bauherren: Die erste Gruppe lehnt die Elektromobilität rundheraus als gehypte Modeerscheinung ab. Diese Menschen sind meist generell sehr skeptisch Neuerungen gegenüber eingestellt und möchten zum Beispiel auch ihre alten Ölheizungen lieber sanieren, als sie durch zeitgemässe Anlagen zu ersetzen. Sie umzustimmen, ist eine grosse Herausforderung. Dann gibt es natürlich auch das krasse Gegenteil, Bauherrschaften also, die ihre Häuser voll auf Elektromobilität ausrichten möchten. Für uns Architekten am schwierigsten zu beraten aber ist die dritte Gruppe, die aktuell zwar noch nicht besonders an Elektromobilität interessiert ist, aber sich die Möglichkeit zur Nachrüstung offenhalten möchte, falls später Bedarf entsteht. Es ist wesentlich günstiger, die nötige Infrastruktur beim Neubau gleich komplett zu installieren, als sie später nachzurüsten. Bei mir zu Hause kostete der nachträgliche Einbau eines einzigen Ladeplatzes zum Beispiel rund 35'000 Franken. Das ist für eine Eigentümerschaft ganz und gar unattraktiv. Hätte man ihn schon mit dem Haus gebaut, wäre dies deutlich spürbar günstiger ausgefallen.
Foto: Nadia Bendinelli
Welche Rolle spielt die Ladeinfrastruktur bei euren neuesten Projekten?
Sie gewinnt rasch an Bedeutung. Gemeinsam mit unseren Elektroplanern beraten wir unsere Bauherrschaften und sensibilisieren sie für das Thema. Ein gutes Beispiel ist die Wohnüberbauung auf dem Reismühle-Areal in Winterthur-Hegi mit rund 100 Wohnungen. Wir durften das Projekt von Grund auf entwickeln, und von Anfang an stand fest, dass die Anlage ökologisch besonders nachhaltig sein sollte. Wir haben der Bauherrschaft, die das Thema Elektromobilität anfangs noch nicht auf dem Radar hatte, empfohlen, für jede Wohnung mindestens einen Ladeplatz einzurichten. Schlussendlich wurden 70 Stellplätze so weit vorbereitet, dass sie jederzeit voll ausgebaut werden können. Doch wirklich geladen werden können Autos vorerst nur auf den drei Besucherparkplätzen. Denn die Nachfrage unter den Mieter*innen, die im September einziehen werden – alle Wohnungen sind nach nur drei Monaten bereits vergeben –, ist noch gering, so zumindest die Rückmeldung der Vermarkterin. Doch das wird sich ändern. In der näheren Zukunft wird die Qualität der Ladeinfrastruktur mit über den ökonomischen Wert einer Immobilie entscheiden.
Die Besucherparkplätze mit ihrer Ladeinfrastruktur sind öffentlich zugänglich?
Theoretisch, doch praktisch verhindert dies das Baugesetz. Besucherparkplätze müssen für Gäste der betreffenden Liegenschaft reserviert bleiben. Ob man möchte oder nicht, man muss ein Verbotsschild aufstellen. Hier bremsen die Vorgaben Innovation aus: Wünschenswert wäre, dass per Gesetz Besucherparkplätze mit Ladeinfrastruktur ausgestattet werden müssen und der Öffentlichkeit zugänglich sind. Wer dort seinen Wagen laden möchte, könnte zum Beispiel über eine App dafür bezahlen.
Für die Bauherrschaft der neuen Überbauung auf dem Reismühle-Areal in Winterthur-Hegi war die Elektromobilität anfangs kein Thema. Doch atelier ww konnte sie überzeugen, zumindest 70 Parkplätze der Anlage mit über 100 Wohnungen für die Installation von Ladeinfrastruktur vorzubereiten. (Foto © atelier ww)
Foto © atelier ww
Foto © atelier ww
Wenn nun eine Überbauung wie in diesem Fall 100 Wohnungen hat und man also 100 Stellplätze mit Lademöglichkeit bauen möchte, ist der Energiebedarf doch kolossal. Wie gliedert sich die Ladeinfrastruktur eines Gebäudes in dessen Energiekonzept ein? Wie schafft man es, die nötige Energiemenge bereitzustellen?
Sehr gute Frage. Das Lastmanagement ist für die Elektroingenieure eine grosse Herausforderung. Ich bin aktuell als Berater für eine italienische Planergemeinschaft mit internationaler Beteiligung tätig, die am Flughafen Zürich für ein US-amerikanisches Unternehmen Rechencenter baut. In diesem Zusammenhang beschäftige ich mich intensiv mit der Energiespeicherung in Batterien. Leider ist der Wirkungsgrad dabei schlecht und der Platzbedarf entsprechend gross – auch wenn es interessante Lösungen gibt: Tesla recycelt zum Beispiel alte Batterien von Elektroautos, die dann in Gebäuden zum Einsatz kommen können.
Im Wohnbau wäre naheliegend, mit einer Photovoltaikanlage Strom zu produzieren und diesen zu speichern, bis er zum Beispiel für das Laden der Elektroautos der Bewohner*innen benötigt wird. Doch dafür müsste man im Untergeschoss sehr grosse Räume vorsehen. Beim Reismühle-Areal wäre der Platzbedarf so enorm gewesen, dass für andere Räume, die im Untergeschoss untergebracht werden müssen, nichts mehr übriggeblieben wäre. Bauherren entscheiden sich in so einem Fall aus wirtschaftlichen Gründen lieber für einen Hobbyraum oder zusätzliche Kellerabteile als für einen Batterieraum, der nicht vermietet werden kann. Ökonomische Interessen gehen im Zweifel eben leider meist vor ökologischen. Gebäude als Energiespeicher sind also nicht realistisch, es sei denn, es gelingt den Forscher*innen, Batterien mit einem viel höheren Wirkungsgrad zu entwickeln. Und so hängt heute die Anzahl der möglichen Ladeplätze stark von den Elektrizitätswerken in der Umgebung und deren Kapazität ab.
Wenn die Energiespeicherung in Batterien in der Praxis derart problembehaftet ist, worin könnte dann eine bessere Lösung bestehen?
Es gibt die Möglichkeit, den mit der Photovoltaikanlage gewonnen Strom zu nutzen, um über eine Elektrolyse grünen Wasserstoff herzustellen, der dann wiederum als Energieträger dienen kann. Der Wirkungsgrad ist dabei sehr hoch. Mit dieser Technik könnte man Häuser völlig autark mit Strom versorgen. Natürlich ist auch hier noch viel Forschung nötig, und ich möchte nicht verschweigen, dass der Umgang mit Wasserstoff aufgrund der Explosionsgefahr heikel ist. Dennoch denke ich, dass dies die Technologie der Zukunft ist. In Deutschland ist man diesbezüglich schon weiter als in der Schweiz, obschon hierzulande Firmen wie Willers Engineering, aber auch die ETH Zürich intensiv an der Erforschung und Entwicklung entsprechender Anlagen arbeiten. In Deutschland wurde die Technologie für den Einsatz in Gebäuden freigegeben.
Foto: Nadia Bendinelli
Inwiefern ist die Elektromobilität für euch bei atelier ww Teil einer nachhaltigen Architektur?
Nachhaltigkeit in der Architektur bedeutet für uns, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Gebäude brauchen Grundrisse, die zu den heutigen Anforderungen und Lebensentwürfen passen. Leider entspricht die Masse der neuen Wohnbauten dem aber erschreckend wenig. Wir brauchen zum Beispiel eine kinderfreundlichere Architektur, die es ermöglicht, Wohnen und Arbeiten zu vereinen. Zeitgemäss wären etwa Kinderwagenräume im Treppenhaus oder Co-Working-Flächen in grösseren Wohnüberbauungen. Und natürlich gehören zu einem modernen Bauwerk auch ausreichend Ladeplätze für Elektroautos.
Aber für eine zukunftsfähige Baukultur bedarf es noch mehr, oder? Schliesslich ist die Bauwirtschaft für den Löwenanteil des CO2-Ausstosses und des Abfalls verantwortlich.
Leider ist das den meisten Menschen noch nicht klar. Breit diskutiert wird stattdessen über Verbrennungsmotoren, Flugreisen, Kreuzfahrten, Ernährung oder Landwirtschaft. Das muss sich ändern. Doch ich kann mich dem Eindruck nicht erwehren, dass politisch nicht erwünscht ist, dass die Bevölkerung begreift, dass wir eigentlich nicht mehr neu bauen sollten. Die Tragweite wäre schliesslich gewaltig.
Wir arbeiten aktuell am Ersatzneubau für ein Pflegeheim, das in den 1960er-Jahren im Stil des Beton-Brutalismus errichtet wurde. Leider lässt sich der Bestandsbau heutigen Anforderungen nicht anpassen, sodass er abgerissen werden muss. Wir würden hier gerne zusammen mit den Planern und Unternehmern eine Lösung entwickeln, den Abbruchbeton vor Ort auf dem Areal mit einer mobilen Anlage zu recyceln und im neuen Gebäude zu verbauen.
Foto: Nadia Bendinelli
Lass uns zum Schluss einen spekulativen Blick in Zukunft wagen: Als das Auto nach dem Zweiten Weltkrieg zum Massenphänomen wurde, hat das den Städtebau verändert. Erwartest du, dass auch die Elektromobilität und zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht das autonome Fahren zu einschneidenden Veränderungen in unseren Städten führen werden?
Das ist eine spannende Frage, zu der aktuell intensiv geforscht wird, etwa am Fraunhofer-Institut in Stuttgart oder an der ETHZ. Die Umstellung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor auf Elektroautos ist eine Gelegenheit, innezuhalten und über Mobilität neu nachzudenken. Angenommen, es gelingt uns, die Anzahl der Autos und das Verkehrsaufkommen erheblich zu reduzieren, zum Beispiel, indem es nurmehr einen Pool von selbstfahrenden Autos für alle gibt, dann werden Flächen in unseren Städten frei. Wenn wir uns dann gleichzeitig dazu durchringen könnten, verstärkt in die Höhe zu bauen, könnten wir grössere Teile des Stadtraums entsiegeln. Das wäre ein sehr wichtiger Beitrag zur Abwendung der Klimakrise und zum Schutz gegen die Überhitzung unserer Städte im Sommer. Es gibt Studien am Beispiel der Stadt Zürich, die zeigen, dass, wenn bestehende Gebäude in der Stadt konsequent in Leichtbauweise aufgestockt würden, rund 70'000 neue Wohnungen geschaffen werden könnten. Doch leider ist das ein kontroverses Thema, und gerade in der Schweiz, wo bisher vermeintlich immer genug Platz zur Verfügung stand, lehnen viele hohe Bauten ab.
Das klingt gut, doch ich sehe noch nicht, dass Elektroautos zu einer Reduktion des Individualverkehrs führen werden beziehungsweise dazu, dass weniger Menschen einen eigenen Wagen besitzen. Im Gegenteil: Für viele Menschen hierzulande ist das Auto noch immer ein Statussymbol und sogar ein Hobby. Der Elektroantrieb ist dann allenfalls eine feine Sache, um sein Gewissen zu entlasten. Passenderweise entwickelt die Autoindustrie derzeit vor allem luxuriöse und sportliche Fahrzeuge mit Elektromotoren. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass man seinen teuren E-Boliden gerne mit anderen teilt. Nicht alles, was sinnvoll ist, stösst deswegen auch auf breite Akzeptanz.
Danke für diesen Einwand, ich finde sehr wichtig, das anzusprechen. Grundsätzlich begrüsse ich den Wandel hin zu Elektrofahrzeugen sehr. Und ich gewinne in meiner Arbeit und im Alltag den Eindruck, dass inzwischen die grosse Mehrheit etwas gegen den Klimawandel unternehmen möchte. Gleichzeitig denke ich aber nicht, dass Elektrofahrzeuge bereits zur Mobilitätswende führen. Wie du sehe ich nicht, dass in den nächsten Dekaden ein funktionierendes Carsharing-System entsteht, zumindest nicht im deutschen Sprachraum und auch nicht in den Vereinigten Staaten. Auch die Politik rechnet vorerst nicht mit einer Abnahme des Verkehrsaufkommens, wie etwa die Einhausung der Autobahn in Schwamendingen zeigt. Aus zwei Richtungsfahrbahnen werden dort künftig drei.
Daneben bestehen noch ökologische Probleme, die man nicht einfach unter den Teppich kehren sollte. Aktuell kaufen wir uns im Westen mit den Elektroautos das Gewissen frei – wir setzen ja beim Fahren kein CO2 mehr frei. Doch wie wird Lithium gewonnen? Und bleibt der Energieaufwand, um ein Auto zu bauen, nicht annähernd gleich? In Deutschland bejubeln viele unkritisch die neue Gigafabrik Berlin-Brandenburg von Tesla. Doch es werden dafür wiederum riesige Flächen zugebaut, versiegelt und grosse Mengen an Energie aufgewendet. Passender wäre es da zum Beispiel, auf bestehende Industriestandorte, die brachliegen, zurückzugreifen. Aber auch hier stehen erneut wirtschaftliche Interessen leider im Vordergrund.
Welche weiteren Schritte sind also nötig?
Ich sehe die Politik sehr stark in der Pflicht. Zukunftsfähige Mobilitätskonzepte werden sich nicht von selbst durchsetzen. Wir brauchen eine ausgeklügelte Förderung. In der Schweiz geschieht mir diesbezüglich zu wenig, etwa verglichen mit Deutschland. Ausserdem muss der politische Wille da sein, Veränderung auch gegen stärkste Lobbyinteressen durchzusetzen. Aktuell wird die Umstellung auf Elektromobilität extrem forciert – für meinen Geschmack geht der Wandel zu schnell, ja überhastet vonstatten. Die Vorgaben der Politik sind mir oft nicht durchdacht, konsequent und weitreichend genug.
Von den Autobauern wünsche ich mir kleine und effiziente Elektroautos, die in den bestehenden Fabriken produziert werden können. Und mittelfristig muss an Energieträgern wie Wasserstoff mit Hochdruck weiter geforscht werden. Denn ich halte die heutigen Elektroautos für einen wichtigen Schritt, nicht aber für die endgültige Lösung.