Zweiter Traversiner Steg
1998 hatte Jürg Conzett den ersten Traversiner Steg gebaut, der wundersam wie der Körperbau eines Insekts zwischen Grazilität und Robustheit zu changieren schien. Zwei Jahre später zertrümmerte ein Steinschlag den Steg. Der Verein Kulturraum Viamala wollte die Verbindung der einst bedeutenden Säumerstrasse Via Spluga wieder herstellen. Am neuen, sicheren Ort gut 70 Meter talauswärts im Traversiner Tobel standen Conzett und sein Mitarbeiter Rolf Bachofner vor der Frage, wie sie die Höhendifferenz von 22 Metern zwischen den dortigen Enden der Via Spluga am effizientesten verbinden könnten. Aus vier Varianten – eine Treppe als Spannband, eine abgehängte Treppe an einem Seilfachwerk, eine abgehängte Podesttreppe an einem Seilfachwerk und eine horizontale Brücke auf der Höhe der Moränenkuppen – wurde die abgehängte Treppe gewählt; sie versprach einen kurzen Gehweg, also niedrige Material- und Erstellungskosten.
Fotos: Wilfried Dechau
Zunächst war lediglich ein Gehweg aus Trittleisten direkt zwischen dem Seilfachwerk geplant. In den vier Jahren, bis das Geld für die Treppe gesammelt war, überarbeiteten Conzett und Bachofner den Entwurf. Man hatte Bedenken, Wanderer würden die schwingende Hängetreppe 70 Meter über dem Bachbett aus Angst nicht begehen. Die Ingenieure verstärkten den Unterbau des Gehwegs. Er besteht nun aus Stahlquerträgern, die in 3,60 Metern Abstand in den Hängeseilen liegen. Darauf liegen links und rechts fünf Brettschichtholzträger. Sie verteilen durch ihre Steifigkeit die punktuellen Einzellasten und dienen als druckbelastete Untergurte der Seilfachwerke. Mit den Querträgern und Zugstäben unter dem Gehweg bilden sie einen Windverband und verhindern zudem den Blick in die Tiefe. Ähnlich wie beim ersten Steg ist der ein Meter schmale Gehweg zu einer Konstruktion von über 2,50 Metern Breite gedehnt, die den senkrechten Blick ins Tobel abschirmt und Sicherheit vermittelt.
Conzett und Bachofner haben die an diesem Ort einleuchtende Idee der Hängetreppe verfeinert. Sie bedienen sich der Kräfte, bis sie zu Bildern werden. Der zweite Traversiner Steg ist ein hellbraun leuchtendes, fragiles Gehänge und Gestäbe, eingewoben in die Schroffheit, ja Brutalität der Viamalafelsen. Die Gestalt der Treppe pendelt von beweglich bis steif, von zart bis stark, von aufgelöst bis kompakt. In ihrer Ästhetik sind etliche konstruktive Überlegungen vereint, von der Materialisierung bis zum Bauablauf. Anders als beim ersten Steg, der fertig angeflogen worden war, entstand die Treppe fast vollständig vor Ort. Dennoch war keine Strasse nötig, der Wanderweg und eine Materialseilbahn genügten. Erst wurden die Widerlager betoniert und verankert, die Hauptseile eingezogen und daran das Fachwerk der Hängeseile geknüpft. Dann legten Kletterspezialisten vorfabrizierte Elemente aus Quer- und Brettschichtholzträgern ins Fachwerk ein; schliesslich wurden Gehweg, Tritte und Geländer aufgesetzt. RM
Zweiter Traversiner Steg
2005
Viamala oberhalb Thusis
Bauherrschaft
Verein Kulturraum Viamala
Sils i. D.
Tragwerksplanung
Conzett, Bronzini, Gartmann
Chur
Baumeisterarbeiten
Luzi Bau
Zillis
Holzbauarbeiten
A. Freund Holzbau
Samedan
Boner Holzbau
Serneus
Gesamtkosten
CHF 527 000.–