Wiederaufbau
Sechs Jahre ist es her, seit ein Erdrutsch 13 Menschen in den Tod und ein Drittel des Walliser Bergdorfs Gondo fortgerissen hat. Mit der Eröffnung des wiederhergestellten Stockalperturms diesen Herbst ist das letzte Puzzleteil des Wiederaufbaus fertiggestellt und eingefügt worden.
Fotos: Tom Bisig, Basel
Gondo ist eines jener zähen Passstrassendörfer, die sich trotz ihrer unwirtlichen Lage über Jahrhunderte hinweg behauptet haben. Die Nationalstrasse, die das Wallis über den Simplon-Pass mit Italien verbindet, schneidet das am Hang liegende Dorf in zwei Hälften. Gegen den Berg erhebt sich eine 400 Meter hohe Felswand, auf der anderen Seite hat sich der Flusslauf der Doveria tief ins Tal gefressen. Auch nach dem Wiederaufbau ist Gondo ein Strassendorf. Heute aber weitet es sich an jener Stelle, wo im Oktober 2000 ein Erdrutsch eine breite Schneise durch die Häuser riss, zu einem leicht erhöhten Dorfplatz. Im neu geschaffenen Zentrum stehen zwei kantige, monolithische Neubauten: das Burgerhaus und ein Mehrfamilienhaus mit Laden. Die dritte Platzseite fasst die neu erstellte Fassade des mittelalterlichen Stockalperturms, den das Unwetter zu einem Drittel zerstört hatte.
Dass die Aufbauarbeiten sechs Jahre dauern würden, war nicht abzusehen. Zwar brachte die Spendensammlung der Glückskette rund 72 Millionen Franken für die betroffenen Regionen zusammen, doch Gemeinde und Kanton waren sich nicht einig, ob sie Gondo wiederaufbauen sollten. Mit Blick auf die Sicherheit und Nachhaltigkeit schien der Wiederaufbau fragwürdig. «Wenn die Rettung von Gondo damals nicht von einem Grossteil der Bewohner, der Bevölkerung in der Schweiz und der kantonalen Regierung getragen worden wäre, hätten wir möglicherweise auch die Umsiedlung in ein neues Dorf unterstützt», sagt der Glückskette-Direktor Félix Bollmann. Nach Ansicht des damaligen Gemeindepräsidenten Roland Squaratti war es vor allem die emotionale Verbundenheit mit dem Heimatdorf, welche die Leute von Gondo zum Bleiben bewog.
In den ersten zwei Jahren nach dem Unwetter sicherte die Gemeinde den Hang, nicht zuletzt aus psychologischen Gründen. Die Hauptschäden hatte der Absturz dreier 450 Tonnen schwerer Betonelemente verursacht, die sich wegen der Wasseransammlung aus der Steinschlagschutzmauer oberhalb des Dorfs gelöst hatten. Daher verankerte man die bestehende, etwa zweihundert Meter lange Betonmauer im Erdreich und schloss die entstandene Lücke mit einem Erddamm. Eine Drainage mit mehreren Abflüssen sorgt heute für eine ausreichende Entwässerung.
Drei statt sieben Neubauten
Schon während der Hangsicherung schrieb die Gemeinde einen Wettbewerb für den Wiederaufbau der zerstörten Gebäude aus, den die Zürcher Architekten Durrer Linggi Schmid im Jahr 2001 gewannen. Ihr Projekt ‹Adagio› sah innerhalb der Abbruchschneise sieben neue Bauten vor, die sich wie Felsbrocken in den Hang stemmen. Im Jurybericht hiess es, die gewählte Geometrie lasse «die Gebäude zu monolithischen Kraftprotzen wachsen». Während die bestehenden Dorfbauten traufständig zur Strasse stehen, drehen sich die Neubauten mit ihren polygonalen Grundrissen aus dem strengen Raster heraus. Entlang der Abbruchkante sahen die Architekten eine Treppe vor, die im Scheitelpunkt der Schneise zu einer Gedenkkapelle führte. Dieser Pilgerweg scheiterte später wegen Sicherheitsbedenken, da er oberhalb der Steinschlagschutzmauer angelegt war. Zum Gedenken genügt den Bewohnern heute eine Glocke auf dem Dorfplatz, die sie einmal im Jahr läuten. Dass die Gemeinde den Wiederaufbau weiter reduzierte, lag vor allem an unklaren Eigentumsverhältnissen. Ursprünglich hatten sich die zehn betroffenen Grundstückseigentümer darauf geeinigt, für Gondos Wiederaufbau die Besitzverhältnisse zu überdenken. Doch für einige Parzellenbesitzer war es zu schwer, nach dem Verlust ihres Hauses auch noch ihr Grundstück herzugeben. So fielen immer mehr Gebäude aus dem Bauprogramm. Übrig geblieben ist das heute realisierte Zentrum mit dem Dorfplatz und der darunterliegenden Tiefgarage, den beiden Neubauten und dem ergänzten Stockalperturm. Die 14,8 Millionen Franken für die Neubauten flossen aus drei Quellen: 2,9 Mio. Franken direkte Spenden, ein Kredit der Gemeinde über 1,2 Mio. Franken und die Beiträge der Glückskette, die den grossen Rest deckten.
Beim Zusammentreffen von Alt und Neu setzten die Architekten auf das Vermitteln und nicht das Kontrastieren. Trotz ihrer monolithischen Form fügen sich das Burger- und das Mehrfamilienhaus behutsam in die bestehende Dorfstruktur ein. Beim Stockalperturm ergänzten die Architekten den fehlenden Teil innerhalb des ursprünglichen Volumens. Die einstige Abbruchkante zeichnet sich heute als Grenze zwischen dem originalen Bruchsteinmauerwerk und dem neuen Teil aus gestocktem Beton ab.
Ein ‹Autobahnraststätten-Dorf›
Vor Kurzem hat die Gemeinde den Stockalperturm fertiggestellt. Doch die Bewährungsprobe des Bergdorfs dauert an. Nachdem die Naturkatastrophe bewältigt ist, plagen Gondo die gleichen Probleme wie viele Bergstrassendörfer. Die Einwohnerzahl ist stark zurückgegangen, die Schule ringt mit fünf Schülern ums Überleben, das Postbüro wurde vor zwei Jahren nach Simplon-Dorf verlegt. Potenzielle Zuzügler schreckt die mächtige Felswand im Rücken von Gondo ab. Trotz aller Sicherungen birgt die Wand ein Risiko, wie letztes Jahr ein Steinschlag bewies. Noch zehrt Gondo von drei Tankstellen, zwei Läden, einem Restaurant und dem benachbarten Wasserkraftwerk, das dem Dorf neben Arbeitsplätzen auch Wasserzins verschafft.
Was bleibt Gondo als Perspektive? Zunächst der Transitverkehr, von dem Gondo immer schon gelebt hat. Dank der geplanten Umfahrungsstrasse könnte Gondo ein ‹Autobahnraststätten-Dorf› werden: Ein Projekt des Amts für Nationalstrassenbau sieht vor, die Strasse im Dorfbereich zu untertunneln und den Zollplatz in einen Parkplatz für Rastende zu verwandeln. Zudem will die Stiftung ‹Lebensraum Simplon Süd› den Stockalperweg zu einem Wanderweg von Brig nach Gondo ausbauen. Von der Eröffnung des Stockalperturms, der als Seminarhotel dienen soll, erhofft sich das Dorf einen wirtschaftlichen Impuls. Was Gondo bleibt, ist die Zähigkeit, mit der Bergdörfer ihre Existenz seit Jahrhunderten verteidigen. Und die Hoffnung, dass die Felswand im Rücken hält.
Katja Hasche
Wiederaufbau Gondo
2000–2006
Bauherrschaft
Burger- und Wohnhaus
Gemeinde Gondo
Bauherrschaft
Stockalperturm
Stiftung Stockalperturm
Architektur
Durrer Linggi Schmid
Zürich
Bauingenieure
SPI Ingenieure
Brig
VWI Ingenieure
Naters
Bauleitung
ar-architekten
Naters
Ritz Hans Architektur & Planung
Grengiols
Ausführungsplanung und
Bauleitung Stockalperturm
Matthias Werlen Architektur
Brig
Kosten
CHF 7,5 Mio
(Tiefgarage, Dorfplatz
Burger- und Wohnhaus)
CHF 7,3 Mio.
(Stockalperturm)
Auftragsart
Wettbeweb 2001