m.a.x. Museo Chiasso
Text: Benedikt Loderer
Fotos: Gian Paolo Minelli
Chiasso wird neu erfunden. Der übel beleumdete Grenzort ist zur exklusiven Adresse für die oberitalienischen Kulturmenschen geworden. Denn in Chiasso entstand eine kleine Kulturinsel mit Kino / Theater, Kunsthalle, Stadtsaal und Platz. Das m.a.x. Museo ist der Kern des neuen Kraftorts. Man staunt beim Besuch in der Agglomeration Mailand.
Was reimt sich auf Chiasso? Grenzbahnhof, Schwarzgeld, il posto piu brutto del Ticino? Wer nach Chiasso fährt, bringt stabile Vorurteile mit. Die geraten aber ins Wanken, wenn man auf dem Corso San Gottardo steht, dem Rückgrat der Stadt. Der einst unerträgliche Durchgangsverkehr hat einer Fussgängerzone Platz gemacht. Chiasso schöpft Atem. Der Taumel des zwielichtigen Finanzplatzes ist vorüber, Ernüchterung trat ein, Chiasso erwachte und begann mit der ‹Neugründung der Stadt›, wie dem ihr Sindaco Claudio Moro sagte. Man spürt einen Willen, hier wieder leben zu wollen.
Die Kulturinsel
Ein wichtiger Bestandteil dieser
Erneuerung ist Chiassos neu geschaffene Kulturinsel. Etwas abseits der
Hauptachse steht seit 1936 das Cinema Teatro, ein wohl erhaltener
Art-déco-Bau aus dem Jahr 1936 des Architekten Americo Marazzi. (Mit
Dachaufbauten allerdings vor kurzem lieblos erweitert.) Seine dem Corso
San Gottardo zugewandte Rückwand ziert ein riesiges Wandbild des Malers
Carlo Basilico, ein Bilddenkmal. Dem Teatro gegenüber stand eine
verwahrloste, verlassene Garage in einem Stück Niemandsland. Mit diesem
Grundstück beginnt die Geschichte der Kulturinsel und des m.a.x. Museo,
genauer, mit seiner Entdeckung durch die Architekten Durisch + Nolli.
Die Witwe des 1992 verstorbenen Grafikers Max Huber, Aoi Huber Kono,
gründete eine Stiftung, die das Werk ihres Mannes und ihres Vaters, dem
japanischen Grafiker Takashi Kono, zugänglich machen sollte. Sie
entschloss sich, einen kulturellen Kraftort zu bauen, das m.a.x. Museo.
‹m› steht für Museum, Max Huber und Multimedia; ‹a› für Art, Avantgarde
und Architektur; ‹x› ist die Unbekannte, die darauf hinweist, dass das
Museum allen Kunstgattungen offen stehen soll und dies besonders für
junge Künstler.
Pia Durisch und Giancarlo Nolli wurden mit dem Projekt beauftragt. Sie mussten sich nicht bloss überlegen wie, sondern auch wo. Da fanden sie das Niemandsland der Garage, sie brachten die Stadt dazu, es zur Verfügung zu stellen. Doch sahen sie sich den Ort genauer an. Hinter der Garage stand ein leerer Hangar in einem dreieckigen Grundstück, der verdächtig nach Abbruch roch. Doch sahen Durisch + Nolli die Chance: der Museumsbau ist nicht ein Einzelobjekt, sondern der Kern einer Kulturinsel. Das Museum stellten sie als schmalen Riegel an die Strasse, den Hangar bauten sie zu einem ‹Spazio Officina›, einem Stadtsaal um, setzten gegen die anschliessende Schule einen Portikus als Abschluss, gestalteten die Umgebung als städtischen Platz mit einem Brunnen und gewannen damit die Kulturinsel. Sie hat heute vier Bestandteile: Kunsthalle, Kino / Theater, Stadtsaal und Platz. Geplant ist noch eine Tanzschule, die die Kalifornierin Carolyn Carlson in einer am Platz liegenden Fabrik einrichten will. Das kulturelle Programm Chiassos lockt unterdessen auch Besucher aus dem nahen Mailand an.
Schrein und Laterne
Das Museum ist eine karges Schatzhaus,
eine weiss leuchtende Laterne nachts, ein geheimnisvoller Schrein
tagsüber. Das Bauprogramm ist einfach: Im Obergeschoss drei
Ausstellungssäle, im hochliegenden Erdgeschoss Vorplatz, Eingangszone
mit Kasse, Caffetteria und Shop, im Untergeschoss Lager, und zwei
Ausstellungsräume. Erst im Längsschnitt wird die statische Raffinesse
klar: Die Auskragung über dem Vorplatz wiederholt sich am
gegenüberliegenden Gebäudeende, was dort einen zweigeschossigen Saal im
Untergeschoss ermöglicht. Zur Raffinesse gehört auch die seitliche
Versetzung der Treppenläufe und der Lichthof im Obergeschoss. Die volle
Höhe des an sich kleinen Gebäudes wird dem Besucher beim Treppensteigen
deutlich gemacht. Ebenso gehören die präzis gesetzten Höhensprünge des
Vorplatzes dazu.
Längsschnitt auf der Mittelachse: Die Auskragung an beiden Gebäudeenden wird hier kaum deutlich.
Die Ausstellungsräume sind überall durch Bandfenster mit hohem
Seitenlicht belichtet. Oben nur an den Längswänden, im doppelhohen Saal
des Untergeschosses dreiseitig. Alle diese Glasbänder sind geätzt, das
Licht wirkt, wie wenn man in ein Luftbecken eingetaucht wäre, man
schwimmt durch die Räume. Es gibt nur an zwei Orten gewählt inszenierte
Klarsicht: beim Innenhof des Obergeschosses und die Aussicht aus dem
Foyer auf das Cinema Teatro. Das Museum hüllt sich in einen Mantel aus
Profilglas, der im Obergeschoss sechzig Zentimeter vor der tragenden
Wand steht. Der Zwischenraum ist eine Vitrine in Gebäudegrösse. Sie ist
zugänglich und kann als verfremdetes Schaufenster für die Ausstellungen
benützt werden.
Das knappe Gebäude ist, was es ist, Details sind
selten. Es regiert die heilige Nüchternheit der sparsamen Verwendung
der Mittel, der architektonischen und der finanziellen. Die
Tragstruktur entspricht der Raumstruktur, Verkleidungen und
‹Innenausbau› gibt es keinen. Das Museum lebt vom Licht, dem innern und
dem äussern. Innen das introvertierte milde Licht, das zur
Kontemplation einlädt, aussen die Ausstrahlung der Laterne und des
weissen Schreins. Wir müssen Chiasso neu zur Kenntnis nehmen, hier ist
ein neuer Kraftort entstanden.
m.a.x. Museo Chiasso
2005
Via Dante Alighieri
Chiasso
Bauherrschaft
Fondazione
Max Huber.Kono
Chiasso
Architektur
Durisch + Nolli
Lugano
Projektleitung
Pia Durisch, Aldo Nolli
Mitarbeit
Michele Zanetta
Lugano
Auftragsart
Direktauftrag
Bauführung
Diego Ostinelli
Balerna
Bauingenieure
Grignoli Muttoni Partner
Lugano
Klimakonzept
Colombo & Pedroni
Bellinzona
Beleuchtung
Modaluce SA
Lugano
Anlagekosten
(BKP 1–9)
CHF 3,5 Mio.
Gebäudekosten
(BKP 2/m)
CHF 561.–