Planung kommt vor dem Fall
Thomas Geuder
3. Juli 2013
Mit seiner ovalen Grundform, dem geschwungenen Dach und dem stufenlosen Aufgang zum Haupteingang sollte die 1962 erbaute Kirche St. Sebastian an ein grosses Schiff, an eine Arche Gottes erinnern. (Foto: Markus Hauschild)
Nicht selten folgt nach der Profanierung eines Kirchengebäudes der Abriss des einstigen Gebetshauses. Die architektonisch meist hochwertigen Räume aber lassen sich auch gut umnutzen, wie die Architekten Bolles + Wilson bei der Kirche St. Sebastian in Münster zeigen.
Kinder brauchen Raum, um sich spielerisch entfalten zu können. Klettern, Raufen, Rennen, Schubsen – beim Kinderspiel kann es dabei körperlich ganz schön zur Sache gehen. Eltern brauchen deswegen die Gewissheit, dass ihren Schützlingen beim Herumtollen nicht viel passieren kann – kleinere Blessuren einmal aussen vor gelassen, denn die gehören schliesslich zur Lebenserfahrung. Doch gerade das Fallen (scheinbar beliebt bei Kindern) kann je nach Höhe recht schmerzvoll bis gefährlich sein. Spätestens an diesem Punkt können Planer etwas für den Nachwuchs tun, indem sie die Spielanlagen und -flächen möglichst stosssicher ausführen. Das bedeutet nicht unbedingt, alles mit Schaumstoff und Gummi zu verkleiden. Das Fallen an sich geschieht normalerweise gemäss der Schwerkraft nach unten, und so macht es vor allem Sinn, den Boden entsprechend zu planen. Das leuchtet selbst Otto Normalpapa ein, auch wenn er ansonsten mit Architektur und alldem nicht viel zu tun hat.
Im Innenraum erinnert nicht mehr viel an die sakrale Vergangenheit des Gebäudes, dafür ist hier nun viel Platz zum Toben. (Foto: Markus Hauschild)
Wir erinnern uns: In früheren Kindertagen waren Kinderspielplätze mit einem Boden aus Sand versehen, was zwar weich war und kleine Baumeister hervorbrachte, aber auch Nachteile hatte. Zwei der meistgehörten Argumente: Der Sand verteilt sich auch in den Schuhen und Klamotten der Kleinen, die diesen dann mit ins Auto oder nach Hause bringen (Stichwort: Putzerei). Und: Manche Tiere lieben es, im Sand ihre Notdurft zu verrichten, was die Freude von Kind und Eltern in der Praxis gehörig schmälern konnte. Die Natur-Alternative zum Sand wäre eine dicke Schicht aus Baumrinde: Auch schön weich, riecht gut, hat aber ähnliche Nachteile wie der Sand. Immer beliebter, weil praktisch sind da die «gummiartigen» Beläge, die man so ähnlich von den Tartan-Bahnen in Sportstadien kennt. Werden Letztere jedoch meist mit einer Dicke von lediglich ca. 12 mm auf einen Betonuntergrund aufgebracht (schliesslich fällt ein 100-Meter-Läufer normalerweise nicht), steckt bei Produkten für Kindergärten mehr Know-how drin. Spezielle Fallschutzböden wie «plaxfix» des Herstellers BSW Berleburger aus dem nordrhein-westfälischen Bad Berleburg etwa bieten viel Sicherheit für die tollenden Kinder. Unter der 10 mm dicken Nutzschicht aus volldurchgefärbtem EPDM-Neugummi-Granulat mit PU-Bindemittel, befindet sich eine bis zu 90 mm dicke Basisschicht aus SBR-Granulat mit PU-Bindemittel, die dafür sorgt, dass Stürze aus bis zu 3 m Höhe abgefangen werden können. Das Material wird vor Ort eingebracht, wodurch am Ende eine fugenlose Fläche entsteht, die sogar dreidimensional gestaltbar ist. Stehendes Wasser wird es dank der hohen Wasserdurchlässigkeit nicht geben. Was Architekten und Planer freuen wird: Playfix ist in 25 Farben und deren Kombinationen erhältlich, sogar Muster können völlig frei gestaltet werden.
Applikationen aus überdimensionalen Händen und Füssen schmücken den Boden. An den Wänden befinden sich gepixelte Umrisse eines Elefanten, einer Schlange und eines Krokodils aus akustisch wirksamen «Sauerkrautplatten». (Foto: Markus Hauschild)
Kirchenbauten sind – einmal rein architektonisch betrachtet – in der Regel Bauwerke mit hochwertigen Innenräumen. Sie nach einer Profanierung (der Entweihung als Sakralraum) einfach abzureissen, wäre in den meisten Fällen keine gute Tat – Stichwort «Reuse». Umso schöner ist da zu sehen, dass es den Architekten von Bolles+Wilson bei der einstigen Kirche St. Sebastian in Münster gelungen ist, sich mit ihrem Vorschlag beim 2009 zur Umnutzung des Kirchengrundstücks ausgeschriebenen Wettbewerb durchzusetzen und so das einstige Gebetshaus in einen neuen Lebensabschnitt zu überführen. Das Bauwerk ist kein gewöhnlicher Kirchenbau: Mit seiner aussen wie innen ovalen Form hat es seit seiner Erbauung durch den Architekten Heinz Esser im Jahr 1962 wesentlich zum Stadtbild des Münster-Südviertels beigetragen. Seit Anfang dieses Jahres nun ist das Gebäude die Heimat einer Kindestagesstätte mit fünf Gruppenräumen. Das Besondere an dem Entwurf: Die Deckenflächen der in das Volumen eingebauten Gruppenräume sind als Spieldecks ausgebildet, die zwar geschützt durch das Gebäude sind, sich klimatisch betrachtet jedoch im Aussenraum befinden. Erzeugt wird dies durch zahlreiche 50 x 50 cm grosse Öffnungen in den Wänden, die einst für einen sakralen Charakter im Innenraum sorgten und die heute offen zum Aussenraum sind. So ist für eine gute Querlüftung gesorgt. Im Winter kalt, im Sommer angenehm temperiert, aber immer trocken können die Kinder nun ganzjährig hier spielen.
Zu diesem Zweck ist die 540 m² grosse Spielfäche der Kita als playfix-Fallschutzboden ausgebildet, in B1-Ausführung mit einer 10 mm starken Nutzschicht und einer 30 mm starken Basisschicht, die zusammen laut Hersteller Stürze aus einer Höhe von bis zu 1,50 Metern abfedern. Was die Kita-Kinder selbst wohl am besten finden: Als Bodenfarbe wurde «Maigrün» gewählt, mit «perlweissen», XXL-Intarsien in Form von Hand- und Fussabdrücken. Eine ideale Spielwiese also, auf der ein Spiel mit der Massstäblichkeit erzeugt wird. Wenn da nicht Eltern wie Kinder rundum zufrieden sind!
Für mehr Tageslicht als zuvor sorgen nun transluzente Kuppeln in der Decke. (Foto: Markus Hauschild)
1961 wurde nach den Plänen des Architekten Heinz Esser der Grundstein für den Kirchenneubau gelegt. (Foto: Sabine Ahlbrand-Dornseiff & Rudolf Wakonigg)
Vom ursprünglichen Bauwerk blieben lediglich die 80cm starken Wände mit Ziegelfassade stehen. Das Dach musste ersetzt werden. (Foto: Bolles+Wilson)
Aufbau von playfix (v.o.n.u.): 1 Nutzschicht aus PU-gebundenen EPDM-Neugummi-Granulaten, vor Ort gefertigt • 2 Regupol® Basisschicht, vor Ort gefertigt • 3 ungebundene (oder gebundene) Tragschicht gem. DIN V 18035-6 • 4 natürlicher Untergrund (Quelle: BSW)
Bei der Gestaltung der oberen Nutzschicht stehen 25 Farben und deren Mischungen zur Auswahl. (Quelle: BSW)
Zwischenfarben entstehen durch einfaches, pixelartiges Mischen. (Quelle: BSW)
Entwurfsskizze
Grundriss 2. Obergeschoss
Grundriss 1. Obergeschoss
Grundriss Erdgeschoss mit Aussenanlagen
Bad Berleburg, D
Hersteller-Kompetenz
playfix
Projekt
Kindertagesstätte Südhafen in der ehemaligen Kirche St. Sebastian
Münster, D
Architekt
BOLLES+WILSON GmbH & Co. KG
Münster, D
Bauherr
Wohn+Stadtbau GmbH
Münster, D
Nutzer
AWO Arbeiterwohlfahrt
Münsterland-Recklinghausen, D
Wettbewerb
2009, Erster Preis
Tragwerksplanung/Bauphysik
ahw Ingenieure GmbH
Münster, D
Haustechnik
Ingenieurbüro Nordhorn GmbH & Co. KG
Münster, D
Brandschutz
W+W Sachverständige und Ingenieure für Brandschutz GmbH & Co. KG
Everswinkel, D
Tageslichtsimulation
Peter Andres – Beratende Ingenieure für Lichtplanung Brandschutz GmbH & Co. KG
Hamburg, D
Fertigstellung
2013
CAD
Vectorworks
Fotonachweis
Markus Hauschild
Sabine Ahlbrand-Dornseiff & Rudolf Wakonigg
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