Zurich Film Festival 2021: Lebenswelten im Anthropozän
Katinka Corts
8. Oktober 2021
Filmstill aus «Invisible Demons» von Rahul Jain
Vor Gästen aus aller Welt hatten neben grossen Produktionen auch Erstlingswerke talentierter junger Filmschaffender Premiere. Viele dieser Arbeiten legen den Finger in die Wunde und zwingen zur Auseinandersetzung mit unbequemen Realitäten.
Das diesjährige Filmfestival in Zürich prägte wohl – international betrachtet – das Event nach dem Corona-Jahr 2020: Die Premiere des neuen Bond-Streifens «No time to die». Aus einheimischer Perspektive wichtig hingegen war der Film «Und morgen seid ihr tot», ein Geiseldrama des Schweizer Regisseurs Michael Steiner. Er erinnert an die unglaubliche Geschichte von Daniela Widmer und David Och, die 2011 auf einer Reise in Pakistan entführt und dann an die Taliban übergeben wurden. Acht Monate waren die beiden in Geiselhaft, bis ihnen die Flucht gelang. Bei der Premiere waren auch Widmer und Och selbst anwesend, deren Erfahrungsbericht Grundlage des Films ist. In diesem wird Och von Sven Schelker gespielt, dem bereits vor zwei Jahren die Darstellung des Bruno Manser im gleichnamigen Film meisterlich gelang. Morgane Ferru, die besonders aus deutschen Produktionen bekannt ist, spielt Widmer. Der Film kommt in wenigen Tagen, am 28. Oktober, in den Schweizer Kinos.
Was das Zurich Film Festival (ZFF) auch interessant macht, sind die zahlreichen Nischenfilme und Dokumentationen, die es nicht in die grossen Kinos schaffen werden. Sie sind wichtig, augenöffnend und nachhaltiger als aller Hochglanz. Drei davon sollen hier stellvertretend vorgestellt werden. Sie drehen sich um ganz unterschiedliche Lebenswelten, jedoch ein alle die Frage danach, wie Menschen leben und leben wollen, was Glück und Erfüllung für sie bedeuten. Es sind Dokumentationen aus Russland, Indien und China, die sich nicht nur in ihrer Machart und Bildsprache unterscheiden, sondern auch darin, mit welchem Gefühl man den Saal verlässt.
Mächtige Natur und der kleine Mensch im Vergleich dazu: Evgeny Kalachikhin nimmt uns in «Beyond the White» mit ans Weiße Meer, hoch in den Norden Russlands. Am südlichen Ende der Kola-Halbinsel befinden sich die Dörfer Tetrino, Chavanga und Kuzomen, in denen inmitten einer atemberaubenden Landschaft – aber auch völlig auf sich gestellt – ein paar Dutzend Menschen in ihren traditionellen Blockhäusern leben. In jedem der Dörfer gibt es zahlreiche verfallende Gebäude, deren frühere Bewohner entweder längst aus der Einsamkeit fortgezogen oder verstorben sind.
Der Film erzählt viel, ohne dass wirklich etwas beschrieben wird. Als Zuschauerin nimmt man am Alltag der Menschen teil, auszugweise, lernt aber niemanden wirklich kennen. Man erfährt nicht den Namen der Frau, die täglich morgens um 6 Uhr die Wetterdaten an die Zentrale funkt. Man weiss nicht, ob die Kinder in den Dörfern eine Schule besuchen. Auch erfährt man nicht, was die Menschen in dieser rauen Gegend hält oder was sie und ihre Familien dorthin gebracht hat. Alle, die zu sehen sind, haben gelernt, mit der wilden Natur zu leben – ohne moderne Infrastruktur und von der regionalen Verwaltung fast vergessen. Als nachts die vegetationsarme Küste und die darunter liegenden Torfgründe brennen, löschen die Bewohner das Feuer eine Nacht lang mit Salzwasser, das sie in Blecheimern von der Küste heranschaffen. Brennholz, Benzin und Nahrung transportieren Lastwagen über die einzige Strasse der Region – sie ist nicht asphaltiert. Kalachikhin nutzte Mittel und Aufnahmestile, die sonst eher im Spielfilmdreh zu finden sind – die Aufnahmen wirken sehr poetisch und stimmungsvoll, ohne dass darüber die Kargheit vergessen geht. Sein Ziel sei es gewesen, den Menschen in der Natur zu zeigen und auch zu betonen, dass letztere in der Region einen grösseren Stellenwert habe als der Mensch, erklärt er selbst.
Mit dem Blick aus unserer sortierten und organisierten Welt fällt auf, wie wenig die gezeigten Menschen anscheinend brauchen, um glücklich zu sein. Sie pflegen den halb verfallenen Friedhof, auf dem Holzstämme, die mit Kreuzen der russisch-orthodoxen Kirche versehen wurden, tief in den sandigen Boden eingegraben werden. Wer keinen Stromanschluss hat, backt sein Brot im Steinofen oder kocht auf einem kleinen Gasherd. Der alte Fischer, der mühsam sein langes Netz geflickt und ausgebracht hat, holt schliesslich ein paar Heringe aus dem Wasser und sagt zu seinem Freund: «Was können wir zufrieden sein, dass wir ein Boot mit Motor haben! Unsere Väter mussten immer rudern.»
Filmstill aus «Ascension» von Jessica Kingdon
«Ascension» fragt, was Leben und Werden in China bedeutenNach diesem ruhigen Film ist der folgende ein wahres Kontrastprogramm, geprägt von Hektik und Lärm. Zwar kennt man die Bilder schon von zahlreichen Fotos und aus allerhand Filmbeiträgen, dennoch mutet es seltsam an, wenn Menschen jeden Alters arbeiten wie Maschinen. Die chinesisch-amerikanische Regisseurin und Produzentin Jessica Kingdon, die in New York lebt, blickt im Film «Ascension» auf die Arbeitsbedingungen der Menschen ihres Heimatlandes und auf deren Möglichkeiten, sozial aufzusteigen. In drei Teilen lernt man die verschiedenen Klassenstufen kennen: Erst geht es um die Arbeit in den Fabriken, dann um die Ausbildung der Mittelschicht und schliesslich um die Elite, die sich seit ihrem finanziellen Aufstieg mit enormem Wohlstand und Dienstpersonal vertraut macht.
Sprüche wie «Work hard and all wishes come true» oder «Be a good example» prangen in China auf Plakaten und bringen die Menschen dazu, als Fabrikarbeiter Zahnbürsten manuell zu bedrucken, Flaschen zu etikettieren, Ferngläser zusammenzubauen und Weihnachtsbäume aus Plastikteilen zusammenzusetzen. Scouts der grossen Firmen werben für derlei Arbeiten auch Tagelöhner an, die sich allmorgendlich auf Parkplätzen versammeln. «Sitting in job available» oder «Free Wlan» rufen jene dann in ihre Mikrofone und geben denen, die sich für sie entscheiden, einen Zettel für den entsprechenden Bus, der die Arbeiter*innen später zum Ort des Einsatzes fährt. Wo auch immer die Nachfrage wächst, sorgt China für ein Angebot, erkennt man wieder einmal. Zwei Arbeiterinnen im Gespräch: «Du zählst nicht die Stunden, die du arbeitest. Der Boss zählt die Stunden und er bezahlt dann so viele Stunden, wie er für richtig hält.» Alle scheint der Gedanke zu beflügeln: Wer hart genug arbeitet, kann den Aufstieg schaffen. Ob Elektronikteile, Jeanshosen oder Sexpuppen – Kingdons Bildcollage nimmt uns mit in die Welt moderner Fabrikarbeit und führt uns den Massenkonsum in Zeiten der Globalisierung vor Augen. 2017 nahm das Filmmaker Magazine sie in die Liste «25 neue Gesichter des Independent Films» auf, 2020 wurde sie für das Filmfestival DOC NYC auf der Liste der «40 unter 40» geführt. Im Interview sagte Kingdon unlängst, ein Freund habe den Film als «eine LSD-Trip-Version der ‹Focus on China›-Ausgabe des Magazins The Economist» beschrieben. Jessica Kingdon sieht China als eine Bühne für universelle Fragen rund um das Paradox des Fortschritts, die sich im Übergang von der einstigen Werkbank der Welt zu einer der grössten Verbrauchergesellschaften befindet. No pain, no gain. Dreams are undefeatable.
Filmstill aus «Ascension»
«Invisible Demons»: Gesundheit in Abhängigkeit von Armut und ReichtumLebenswelt-Wechsel. Indien. Wir sind in Neu Delhi, es ist Juni, in der Stadt herrschen 49,2 Grad Celsius. Wer vermögend ist, lebt in klimatisierten Innenräumen – täglich zwischen Wohnung oder Haus, Auto, Büro und Haute-Couture-Läden. Wer arm ist, bewegt sich in Smog-verpesteter Luft, betet im abwassergeschwängerten Fluss oder sortiert Müll auf einer der gigantischen Deponien. Im Aussenraum Neu Delhis ist das Thema Gift allgegenwärtig, Augenreizungen und Lungenkrankheiten sind an der Tagesordnung. Mit dem Film «Invisible Demons» bewegt sich der junge Regisseur Rahul Jain im ebenso jungen Genre «Kino für das Klima». Jain wuchs als privilegiertes «Air-Conditioned-Child» auf, wie er selber im Prolog einspricht. Geboren in wohlhabenden Verhältnissen, war es ihm später möglich, ins Ausland zu gehen und am California Institute of The Arts Film und Video zu studieren. Als er die Idee zum Film entwickelte, galt Neu Delhi zum erneuten Mal als weltweit am schlimmsten verschmutzte Stadt. Statt auf globaler Ebene wollte Jain das Thema Klimawandel in einem persönlicheren Kontext zeigen – seine Heimatstadt schien ihm als ideale Leinwand für das Thema. Den Film erlebt man zwiegespalten, denn man sieht phantastische Bilder und weiss zugleich, dass der Schaum auf dem Fluss und das Flirren der Russteile in der Luft den Schaden an der Umwelt dokumentieren. Durch den Film hindurch spielt Jain Szenen mit der Wettermoderatorin Divya Wadhwa von NDTV (New Delhi Television), dem Pionier des unabhängigen Nachrichtenrundfunks in Indien, ein. Die sphärischen Bilder werden so mit klaren Fakten untermauert, die die Dramatik der Situation deutlich machen und in die Realität holen. Der Filmdreh indes war in der 30-Millionen-Einwohner- und 3,5-Millionen-Auto-Stadt nicht einfach: Etwa die Hälfte jedes zwölfstündigen Drehtags verbrachten die Beteiligten im Stau.
«Monsun was a source of celebration. Now it turns into an epidemic.»
Einige der gezeigten Bilder kennt man, andere nicht. In die Vororte wird Trinkwasser mit Tanklastern gebracht, weil es keine Wasserversorgung gibt. Andernorts wässert ein Bediensteter den Rasen einer Dachterrasse. Regnet es lange nicht, werden die Strassen staubig und die Luft wird schwer. Kommt dann der ersehnte Monsunregen, sind die Böden zu trocken, um das Wasser aufzunehmen und grosse Teile der Stadt versinken in den Fluten. Geht das Wasser zurück, breiten sich Krankheiten aus – zur Vermeidung von Epidemien werden dann die Häuser mit Chemikalien ausgeräuchert. Gleiches geschieht mit den Parks, deren Grün nicht von Ungeziefer befallen werden soll. So beginnt auch der Film mit einer mehrminütigen Einstellung, in der man quer durch einen idyllischen Stadtpark blickt. Aus dem Hintergrund arbeitet sich Zug um Zug ein Gärtner mit einer tragbaren Sprühanlage durch das Grün und hinterlässt eine giftige, undurchsichtige Wolke. Immer wieder lässt Jain Menschen zu Wort kommen, die ein kleines Puzzleteil zum Gesamtbild beitragen: Der Taxifahrer spricht über sein atemwegserkranktes Kind. Ein Händler erklärt, dass er mit dem Einsatz von Pestiziden doppelte Erträge hat und damit mehr Geld verdient. Wachstum sei ja gut, aber um welchen Preis, fragt der Regisseur an einer Stelle im Film. Und Divya Wadhwa erklärt, dass in Neu Delhi zehn Prozent der Todesfälle direkt auf Luftverschmutzung zurückzuführen seien – mehr also als auf Unfälle und auf Terrorismus. 2015 listete die WHO Städte mit der weltweit stärksten Luftverschmutzung auf – zehn der ersten 15 Plätze belegten damals indische Städte, dazwischen einige in Pakistan und Bangladesch. Die befragten Menschen schimpfen, dass Politik doch eigentlich ihnen dienen solle, es aber nicht tue. Von Wahl zu Wahl würden die Politiker Wasserversorgung, Luftreinheit und eine Lösung des Abfallproblems versprechen – doch nach der Wahl sei das immer wieder rasch vergessen. Im Epilog ist nochmals Jain zu hören. Er fragt, während sich die Kameradrohne langsam von einer der Deponien entfernt und die schiere Höhe der Müllberge zeigt: «Wenn das Entwicklung ist, wie würde dann eine Welt ohne Entwicklung aussehen?»
Abgeschiedenes Leben in Russland, überbordende Entwicklungen in China und Umweltkatastrophe in Indien – drei ganz unterschiedliche Momentaufnahmen des Anthropozäns von jungen Filmschaffenden. Wer sich der (gesunden!) Natur unterwirft und mit ihr im Einklang lebt, führt zwar ein bescheidenes Leben, scheint aber dankbarer und zufriedener zu sein. Wer sich dem Konsum und den Dingen unterwirft, die einen umgeben, wird nicht zur Ruhe kommen und im ständigen Streben nach dem möglichen Aufstieg verharren. Ausgeliefert und Opfer werden jene, die nicht aus freien Stücken an Orten leben, an denen sie ständig ihre Gesundheit gefährden müssen, ohne durch eigenes Zutun daran etwas ändern zu können. Glück und Erfüllung ist für jeden etwas anders. Nach dem ersten Film ist es vielleicht die Gewissheit, in einem funktionierenden Land zu leben. Nach dem zweiten Film mag man ein tieferes Verständnis dafür haben, dass aller Konsum nicht zum Glück führen kann. Und nach dem dritten ist es wohl einfach eine Dankbarkeit dafür, den blauen Himmel sehen und frische Luft atmen zu können.