Stürzende Linien

Manuel Pestalozzi
22. Juni 2016
Switch House, Tate Modern. Bild: © Iwan Baan

Bei Architekturfotos sind stürzende Linien tunlichst zu vermeiden! Verwendet man ein Weitwinkelobjektiv ohne Shift-Funktion, dann kommt zwar das ganze Gebäude aufs Bild. Weil die vertikalen Linien nach oben zusammenlaufen, entsteht aber das Gefühl, das Bauwerk stehe nicht aufrecht sondern lehne sich zurück. In Fachkreisen ist diese verfremdende Wirkung verpönt. Beim «Switch House», der Erweiterung der Tate Modern in London, entfallen diese Sorgen für einmal; es lehnt sich tatsächlich zurück, und die Linien suchen einen Konvergenzpunkt im Himmel über London.
 
Ein Kunstmuseum im alten Schwerölkraftwerk des Art Deco Infrastruktur-Architekten Giles Gilbert Scott: Mit dem siegreichen Wettbewerbsprojekt für die im Jahr 2000 eröffnete Tate Modern durften Herzog & de Meuron ihren endgültigen internationalen Durchbruch feiern. Von da an spielten sie in der Champions League und konnten sich der Aufträge kaum mehr erwehren. Ihre Intervention wertete die Bankside am Südufer der Themse nachhaltig auf, und heute hat sich ein hippes Quartier etabliert. Der Name «The Switch House» – auf Deutsch: die Schaltzentrale – für die Erweiterung der Tate bezieht sich auf einen Vorgängerbau der «New Tate Modern», der rückwärtig ans Kraftwerk angebaut war.

Switch House, Tate Modern. Bild: © Iwan Baan
Switch House, Tate Modern. Bild: © Iwan Baan
Switch House, Tate Modern: Bild: © Iwan Baan
Switch House, Tate Modern. Bild: © Iwan Baan

Der 64,5 Meter hohe, gedrungene Turm ist mit einem plastischen Sichtbacksteinkleid eingehüllt, der das Volumen in den Gesamtkomplex eingliedert. Er erhöht die Ausstellungsfläche um 60 Prozent. Seine 10 Etagen erheben sich über einem riesigen Kleeblatt, das die Fassungen der einstigen Öltanks in den Boden zeichnen. Herzog & de Meuron verwandelten diese unterirdische Lagerstätte 2012 in Räumlichkeiten für die darstellenden Künste. Eine Beton-Wendeltreppe führt von dort zum Strassenniveau, wo ein neuer Eingangsbereich mit dem obligaten Shop eingerichtet wurde. In den neuen Geschossen finden sich Ausstellungs-, Unterrichts- und Veranstaltungsräumlichkeiten. Auf dem Dach ist eine Aussichtsplattform eingerichtet.
 
«The Switch House» zeigt das Basler Büro in Hochform. Hier verbindet sich kontextuelles Bauen mit einer eigenständigen Handschrift auf überzeugende Weise. Es gibt keinen Zweifel, dass die Tate Modern hervorragend gerüstet ist für den Empfang von internationalen Touristenmassen und sich in der Lage befindet, den ästhetischen und kulturellen Bildungsschatz seiner Besucherinnen und Besuchern unaufdringlich zu bereichern.

Switch House, Tate Modern. Bild: © Iwan Baan
Mutterhaus und Erweiterung von Herzog & de Meuron. Switch House, Tate Modern. Bild: © Iwan Baan

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