Faszinierende Zeitreise
Elias Baumgarten
13. Mai 2019
«Archigram – The Book» erzählt die Geschichte der legendären britischen Avantgarde-Gruppe. Bild: Elias Baumgarten
In den 1960er- und 1970er-Jahren machte Archigram mit utopischen Entwürfen dem Frust über das konservative britische Architektur-Establishment Luft. Heute, über 50 Jahre später, haben die sechs Protagonisten mit «Archigram – The Book» eine opulente Werkschau herausgegeben. Das aufwendig gestaltete Buch entführt mit inspirierenden Bildern und ästhetischen Zeichnungen in eine Hochphase kühner Architekturvisionen.
Die Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre wird bis heute bemüht, geht es um zukunftsweisende, hochtechnisierte architektonische Utopien. Die Entwürfe und Ideen jener Zeit muten vielen auch heute noch wie Science-Fiction an. Für Architekt*innen, die von wachsenden, flexiblen, mobilen oder gar fliegenden Bauwerken träumen, haben sie kaum etwas von ihrer Inspirationskraft eingebüsst. Zu den wichtigsten Protagonisten jener Zeit gehört die britische Gruppe Archigram. Sie entstand anfangs der 1960er-Jahre aus Frust über die konservative Haltung des damaligen Architektur-Establishments auf der Insel: 1961 veröffentlichten Peter Cook, David Greene und Michael Webb die erste Ausgabe des Magazins Archigram. 300 Hefte wurden gedruckt und vor allem an Student*innen verkauft. Der Inhalt: kritische Texte, Comics, Wettbewerbsbeiträge und visionäre Entwürfe. 1962 folgte das zweite Heft, nachdem Warren Chalk, Dennis Crompton und Ron Herron zur Gruppe gestossen waren. Bald darauf wurden sie für eine Schau ans Institute for Contemporary Art in London eingeladen, und der Architekturkritiker Reyner Banham adelte Archigram als «Pioniere der Poparchitektur». Dass Archigrams Arbeiten aus heutiger Sicht über Gebühr Technologie-Optimismus verbreiten und eine wenig distanzierte Medienfaszination aus ihnen spricht, tut ihrer Strahlkraft keinen Abbruch. Auch dass es der Gruppe nicht gelungen ist, eine tiefschürfende Gesellschaftskritik zu formulieren, schmälert ihre Bedeutung nur wenig. Nun, über ein halbes Jahrhundert später, haben die sechs Gestalter eine umfassende Werkschau publiziert. Sie heißt «Archigram – The Book».
Blick ins Buch. Bilder: Elias Baumgarten
OpulentErschienen ist das Buch in englischer Sprache beim Verlagshaus Park Books. Es wird in Kooperation mit der Circa Press Ltd. aus London verlegt. Die Publikation ist massiv: 345 auf 270 mm misst sie und ist dabei 300 Seiten stark. Alle wichtigen Entwürfe, Projekte, Ausstellungsbeiträge, Magazine, Streitschriften und Poster werden darin in chronologischer Reihenfolge präsentiert. Die Texte stammen von den Protagonisten selbst sowie von Reyner Banham, Martin Pawley und Michael Sorkin. Das Buch ist vor allem auch eine inspirierende Sammlung von Bildern: 396 farbige und 216 schwarzweisse Abbildungen erwarten die Leser*innen. Etliche Seiten lassen sich ausklappen. Einige Zeichnungen können überdies aufgefaltet werden. «Archigram – The Book» ist überaus aufwendig umgesetzt. Wie einst die Magazine der Gruppe gewinnt das Buch seine Kraft aus einer raffinierten und suggestiven Mischung von Pop-Art, Comics, Agitpop und Fotomontagen. Das ist wenig verwunderlich – gestaltet hat den schönen Prachtband nämlich das ehemalige Archigram-Mitglied Dennis Crompton.
Bei all dem Lob gibt es allerdings auch einen Wermutstropfen: die Typografie. Für die Texte wurde die Schrift «Eurostile» des bekannten italienischen Gestalters Aldo Novarese (1920 – 1995) gewählt. Er zeichnete sie 1962. Ästhetisch mag sie zu Archigrams Arbeiten passen. Auch weckt sie Erinnerungen an die Magazine der Gruppe. Doch sie wurde für Überschriften und kurze Textblöcke entwickelt – nicht für lange Fliesstexte. Zudem fallen die Abstände zwischen den Buchstaben und auch den Zeilen recht klein aus, während jene zwischen den Wörtern sehr gross sind. Das Satzbild wirkt ungepflegt und das Lesen wird erschwert.
Bilder: Elias Baumgarten
EintauchenDennoch ist das Buch sehr zu empfehlen. Es ermöglicht eine wundervolle Zeitreise: Die Publikation versetzt einen zurück in eine Zeit, die geprägt war vom technischen Fortschritt und der Raumfahrt, aber auch von Superhelden-Comics und tiefgreifenden soziokulturellen Veränderungen. So kann man bei der Lektüre nachvollziehen, dass Archigrams zahlreiche Entwürfe von Kapseln im Zusammenhang mit der Eroberung des Alls und einer Faszination für die Raumfahrt stehen. Das wird deutlich, wenn man die Comics aus «Amazing Archigram 4» mit später entwickelten Wohnkapseln und aus diesen aufgebauten Grossstrukturen vergleicht. Oder auch angesichts mobiler Architekturen wie der ikonischen «Walking City», die auf vielen Illustrationen wie ein Raumschiff dargestellt wird.
Archigram – The Book
Warren Chalk, Peter Cook, Denis Crompton, David Greene, Ron Herron, Michael Webb (Hrsg.)
345 x 270 mm
300 Seiten
612 Illustrationen
ISBN 9783038600985
Park Books mit Circa Press Ltd.
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