Eine Verneigung vor Ricardo Bofill
Andreas Ruby
20. Januar 2022
Ricardo Bofill im November 2021 (Foto: Charles Ganz / world-architects.com)
Ricardo Bofill tat, was er für richtig hielt, die Dos and Don’ts seiner Kritiker kümmerten ihn wenig. Seine Anlagen polarisieren, doch letztlich sind sie vielen modernistischen Wohnkomplexen überlegen.
Was ich von Ricardo Bofill wie von keinem anderen Architekten gelernt habe, war, meinem eigenen Urteil zu misstrauen. Als ich in den 1990er-Jahren während meines Studiums zum ersten Mal seine Bauten sah – Les Echelles du Baroque am Place de Catalogne in Paris und Les Espaces d’Abraxas in Marne-la-Vallée – war ich mir sicher, dass es sich dabei nur um einen kompletten Witz handeln konnte, der keine weitere Aufmerksamkeit oder Reflexion wert war. Ich war 27 und meinte, ich wüsste, was in der Architektur richtig und falsch ist – und «Pomo» musste einfach falsch sein. Diesen Glauben trug ich mit mir herum, bis 2006 ein befreundeter Architekt aus Barcelona, Luís Falcon, Ilka und mich zu Walden 7 mitnahm. Dieses Gebäude pulverisierte alle Vorurteile, die ich über den Architekten hatte. Jeder mit auch nur einem Hauch von Wertschätzung für Architektur kann dieses Gebäude eigentlich nur lieben. Es ist ein echtes Meisterwerk und ein Glücksfall in der Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts. Und doch mag man sich kaum ausmalen, welche Hindernisse Bofill überwinden musste, um es zu bauen – er musste es selbst entwickeln und konnte schliesslich nur eines von mehreren Gebäuden bauen, die für den Standort geplant waren. Dabei ist es schade, dass dieses Projekt nur einmal gebaut wurde. Es ist ein grossartiger Ort zum Leben, verspielt und fröhlich utopisch. Es war weit mehr als nur ein Wohnungsbau, sondern ein Kommune-Experiment mit neuen Formen des Zusammenlebens jenseits der klassischen Familie, seiner Zeit weit voraus und dadurch heute immer noch genauso aktuell und relevant wie zu seiner Entstehungszeit – eine Qualität, die ganz bestimmt auch auf die ungewöhnliche Komposition des Teams des Taller de Arquitectura zurückgeht, in dem neben Architekten auch Schriftsteller, Künstler und Musiker zusammenarbeiteten. So hat Anna Bofill, Ricardo Bofills jüngere Schwester, für Walden 7 Raumstrukturen aus musikalischen Strukturen entwickelt, was die ungewöhnlichen Grundriss-Taxonomien des Gebäudes zu erklären vermag.
Walden 7, Barcelona, Spanien, 1974 (Foto © Ricardo Bofill Taller de Arquitectura)
Foto: Andreas Ruby
Dennoch konnte ich mir immer noch nicht erklären, wie ein und derselbe Architekt dieses Gebäude errichten konnte und in den 1980er-Jahren zum Posterboy der Postmoderne avancierte (nachdem er sich mit fast allen Teammitgliedern des Taller zerstritten hatte, was eine Erklärung sein könnte). Ich betrachtete seinen Postmodern Turn einfach als kulturelle Midlife-Crisis eines ansonsten genialen Architekten und war sicher, dass ich mich niemals wieder mit seiner Arbeit beschäftigen würde. Doch auch diese Sicherheit erwies sich als Illusion, als ich 2012 mit Ilka zufällig sein Quartier Antigone in Montpellier kennenlernte. Eigentlich waren wir an die französische Mittelmeerküste gereist, um uns die modernistische Feriensiedlung La Grande Motte von Jean Balladur anzusehen – ein grossartiges Beispiel modernen Städtebaus mit einer ambitionierten experimentellen Architektur, aber auch überraschend gut artikulierten Stadträumen. Als wir auf dem Rückweg einen Abstecher durch das Quartier Antigone machten, ergab sich auf verwirrende Weise ein anderes Bild von Bofills Architektur. Zwar war ich immer noch perplex ob des überbordenden Pathos, aber gleichzeitig merkte ich, wie ich mich heimlich für Bofills surreale Manöver, dorische Säulen als Erkerfenster zu cross-programmieren, zu begeistern begann. Es war architektonisch so hinreissend over the top, dass mein modernistisch-korrektes Wertebild zunehmend ins Wanken geriet. Ich kämpfte mit mir, diese Architektur nicht zu mögen, weil es mir schwerfiel zuzugeben, dass sie mich tatsächlich faszinierte.
Was mich schliesslich reinen Tisch machen liess mit meiner Closet-Fascination, war die Qualität der öffentlichen Räume des Quartiers. Bofill ist hier einfach etwas gelungen, woran so viele modernistische Sozialwohnungsensembles in Frankreich und anderswo gescheitert sind und was Team X schon beim CIAM 10 in Dubrovnik an der heroischen Moderne kritisiert hatte: Er hat es geschafft, den Raum der Strasse zu erzeugen. Er hat sich mit der Dimension des städtischen Erdgeschosses befasst, weil er verstanden hat, dass das Erdgeschoss eines Gebäudes eine andere Funktion hat als alle anderen Geschosse: Es ist das Scharnier zwischen der horizontalen Ebene des Bodens und der vertikalen Ebene des Gebäudes und die entscheidende Voraussetzung dafür, dass sich ein Haus wirklich in das urbane Gefüge der Stadt einbetten kann. Im Quartier Antigone konnte man etwas sehen, das man bei modernistischen Wohnstädten leider fast nie zu sehen bekommt: Es hatte ein Programm auf der Strassenebene – Geschäfte, Restaurants oder einen Kiosk. Und der Raum vor und zwischen den Gebäuden war keine abstrakte und mit Minimalvegation dürftig kaschierte Abstandsfläche, sondern eine sorgsam gegliederte Landschaft öffentlicher Räume mit differenzierter Bepflanzung, vielen Sitzgelegenheiten, rhythmisch eingesetzten Brunnen und öffentlichen Skulpturen. Mit anderen Worten: Der Raum zwischen den Gebäuden ist hier als ein Raum gedacht, in dem man sich tatsächlich aufhalten kann. Und das tun die Leute auch wirklich. Obwohl das Quartier damals kaum zwei Jahrzehnte alt war, fühlte es sich bereits wie ein Teil der Stadt an. Das ist eine bemerkenswerte Leistung, wenn man bedenkt, dass die meisten modernistischen Wohnkomplexe es leider nie so weit gebracht haben (und ich wäre der Erste, der sich das wünscht).
Welche Rolle spielt es also, ob ich die Formensprache von Bofill mag oder nicht? Und wer bin ich, um das zu beurteilen? Ihm ist es zweifellos gelungen, einen Ort zu schaffen, an dem die Menschen leben können, und sie scheinen sich dort sehr wohlzufühlen. Und auch ich fühlte mich in diesen Räumen wohl. Verdammt, ich hab mich von dem frivolen Groove seines Spiels mit historischen Sprachen der Architektur gerne anstecken lassen. Bofills Aneignung der Tradition hatte etwas Unverfrorenes, Hedonistisches, einen Hauch von Anarchismus, wie ich ihn auch bei seinem Walden-7-Projekt gespürt hatte, das damals genauso im Widerspruch zum architektonischen Status quo seiner Zeit stand wie seine späteren Arbeiten. Vielleicht ist es das, was ich an Bofill am meisten bewundere: Dass er einfach tat, was er wollte, und sich nicht um die Dos and Don’ts derer scherte, die meinten, sie hätten die Autorität, diese zu dekretieren. Denn das haben sie ja nicht. Und für mich atmen Bofills postmoderne Strukturen immer noch viel mehr Leben und Leidenschaft als viele Fabrikationen jener, die sich berechtigt fühlten, sein Werk zu verwerfen.
Antigone in Montpellier, Esplanade de l’Europe, 1978 (Foto: Torcello Trio via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)
La Fàbrica, Barcelona, Spanien, 1973–2012 (Foto © Ricardo Bofill Taller de Arquitectura)
Vor ein paar Wochen hat mich Ricardo Bofill ein weiteres Mal überrascht, als ich endlich seine Wohnung und sein Büro in der Fàbrica, einer umgebauten Zementfabrik neben Walden 7 gesehen habe. Der Besuch war von der Fundació Mies van der Rohe im Rahmen der von Ilka und mir kuratierten Ausstellung «Never demolish» im Barcelona-Pavillon über das Projekt 530 transformierte Wohnungen von Lacaton & Vassal, Druot und Hutin in Bordeaux organisiert worden. Wir fuhren alle zusammen zu Bofills Zementfabrik, wo er und seine Söhne uns in diesem fantastischen, vierfach hohen Raum empfingen, um an einem langen Tisch zu sitzen und bei einem Kaffee zu reden. Er rauchte ununterbrochen und sprach über sein Leben und sein Werk, während exquisite handgefertigte Bücher aus seiner frühen Karriere herumgereicht wurden. Es war ein unvergesslicher Anblick, diesen zurückhaltenden, aber herzlichen Mann mit Architekten wie Jean-Philippe Vassal und Anne Lacaton sprechen zu sehen, während man in einem der beeindruckendsten Beispiele architektonischer Transformation sitzt, das nach dem Diokletianpalast in Split oder der Mezquita Catedral de Córdoba gebaut wurde. Alle Anwesenden spürten, dass dies ein ganz besonderer Moment war, eine Begegnung von Generationen, die durch eine gemeinsame Sensibilität für die letzten Dinge der Architektur verbunden sind: Dass das Wichtigste in der Architektur vielleicht nicht das ist, was wir neu erfinden, sondern wie wir das, was vorher da war, durch behutsame, aber beständige Verwandlung bewahren.
Danke, Ricardo, für alles, was Du zu geben hattest. Du wirst vermisst werden. Mein tiefstes Beileid geht an seine Familie und alle, die mit ihm bei Ricardo Bofill Taller de Arquitectura gearbeitet haben.