Ein altes Haus wird belebt

Susanna Koeberle
23. September 2019
Der ehemalige Gasthof Hirschen in Flawil stand lange leer. Für eine Woche wurde er zum Ort des kollektiven Lernens und Lebens. (Foto: Susanna Koeberle)

Das Haus stand über 15 Jahre leer. Der ehemalige Gasthof Hirschen wurde 1777 als stattliches Herrschaftshaus fertig gestellt. Das barocke Gebäude sticht durch seinen Turm hervor, der den in der Senke liegenden Bau zu einem weit herum sichtbaren Wahrzeichen macht. Die Architektin Kathrin Füglister und der Metallspezialist Moritz Lehner richteten in dem Haus ihre erste «Störwerkstatt» ein. Sie schrieben einen Sandguss-Workshop aus und luden dazu auch Freude und Freundinnen ein. 15 Expert*innen aus unterschiedlichsten Disziplinen sowie Laien gingen auf dieses ungewöhnliche Wohn- und Arbeitsangebot ein und wollten an dem Experiment teilnehmen. Es ging zum einen um das Erlernen der Technik des Metallgiessens (oder zumindest ein Herantasten und ein spielerisches Experimentieren damit), zum anderen um das Testen kollektiver Formen des Lernens und Zusammenlebens. 

Abends kochten und assen die Teilnehmer*innen gemeinsam. (Foto: Kathrin Füglister und Moritz Lehner)

In der Vorbereitung ergaben sich glückliche Fügungen. Die beiden Initiator*innen stiessen in der Gegend auf eine Industrie-Giesserei, die das Rohmaterial (Aluminium) sowie Natursand sponserte, ein Hotel aus St. Gallen steuerte alte Matratzen und Bettwäsche bei. Das Wort «Störwerkstatt» umfasst verschiedene Bedeutungsebenen. Diese stehen auch für die offene Geisteshaltung dieses Experimentes. Wenn früher Handwerker*innen auf der Stör kamen, wurde gleichsam Knowhow importiert. Nicht die Kund*innen gingen in die Werkstatt, sondern umgekehrt. Diese Form des Wissenstransfers interessierte Füglister und Lehner. «Stör» kommt ursprünglich von stören, denn das nicht ortsansässige Handwerk umging die traditionelle Zunftordnung. «Stören» wird hier zum Programm. Die Bewohner*innen waren zwar nicht unbefugt im Haus, doch machten sie durch ihre friedliche Besiedlung auch auf den Zerfall des historischen Baus aufmerksam. Die Öffnung des Hauses zog regelmässig neugierige Besucher*innen an, so entstand auch ein Austausch mit der Bevölkerung. Mittlerweile wurde eine Käuferschaft für das Objekt gefunden. Auf jeden Fall unterwandert die «Störwerkstatt» gängige hierarchische Schemen der Wissensvermittlung. 

Für die Abgüsse verwendeten die Teilnehmenden auch vor Ort gefundene Objekte. (Foto: Kathrin Füglister und Moritz Lehner)
Die Teilnehmenden besiedelten das riesige Haus. (Foto: Kathrin Füglister und Moritz Lehner)

Um diese Erfahrung auch mit anderen Interessierten zu teilen, wurden am Schluss der Seminarwoche eine Ausstellung sowie ein Abschlussgespräch organisiert. Letzteres übernahm «LE FOYER – IN PROCESS», ein Format, das vor zwei Jahren von den drei Kunsthistorikerinnen und Kuratorinnen Yasmin Afschar, Gioia Dal Molin und Gabrielle Schaad initiiert wurde. Wie im Namen schon mitschwingt, fokussieren die drei Frauen mit ihrer mobilen Gesprächsplattform auf Prozesse, also weniger auf Endprodukte als auf im Entstehen Begriffenes. Dazu passte die «Störwerkstatt» bestens. Yasmin Afschar befragte vor Ort die Teilnehmenden zu ihren Erfahrungen und Motivationen. Dabei erfuhren Zuhörer*innen einiges über das Handwerk des Sandgiessens. 

Inspiration zur Wahl dieser besonderen Fertigungsmethode lieferte ein schön fotografiertes Buch über Joan Miròs Arbeitsweise mit dem Sandguss. Dieses Verfahren biete den Vorteil, dass man kontinuierlich an der Form arbeiten könne, erklärte Moritz Lehner. Zudem könne man genau und intuitiv zugleich arbeiten. Viele Teilnehmende äusserten sich positiv zur sozialen Dimension des Projekts. Man musste sich den Tag organisieren und arbeitete tagsüber gemeinsam oder einzeln. Am Abend wurden die Formen gegossen. Dabei entstand auch Respekt vor den komplexen chemischen Vorgängen, die beim Giessen ablaufen. Es kam wiederholt zu kleineren (aber ungefährlichen) Explosionen. Am gemeinsamen Essen (Freunde kamen auch zum Kochen auf die Stör) wurde über den Tag und die Produkte diskutiert. 

Die Ausstellung wurde mit Mustern aus dem Materialarchiv des Sitterwerks St. Gallen ergänzt. (Foto: Susanna Koeberle)
Ausstellung der Resultate. (Foto: Kathrin Füglister und Moritz Lehner)

Die Ausstellung der Resultate – häufig sehr abenteuerliche Formen – wurde ergänzt mit Mustern aus dem Materialarchiv des Sitterwerks St. Gallen, das die Gruppe durch die Woche begleitet hatte. Zudem wurde eine Auswahl an Publikationen zum Thema ausgestellt. Das rege Interesse am Handwerk seitens von Künstler*innen und Architekt*innen zeigt, dass das Thema fasziniert. Vielleicht gerade, weil wir im Begriff sind, so viel handwerkliches Wissen zu verlieren. Dieses Amateurhafte – im positiven Wortsinn von Roland Barthes verstanden, nämlich als etwas, das man leidenschaftlich gerne betreibt – ist eine produktive Form der Aneignung in Eigenregie. Zum positiven Ausgang der Woche trug auch die einmalige Örtlichkeit bei. Solche Häuser sind auch Sinnbild für verstecktes Wissen. Fazit: Die zweite «Störwerkstatt» soll schon bald stattfinden. 

Der Turm des herrschaftlichen Baus macht diesen zum Wahrzeichen. (Foto: Kathrin Füglister und Moritz Lehner)

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