Die Angst vor einem Scherbenhaufen

Manuel Pestalozzi
29. März 2023
Im Raumgefüge des Projekts «überall» wird der historische Zuschauerraum des bestehenden Theaters zum mehrgeschossigen Foyer. Seit seiner Präsentation ruft der Entwurf in der Bevölkerung fortgesetzt teils vernichtende Kritik hervor. (Visualisierung: © Ilg Santer)

Nach Auffassung der Stadtregierung braucht Luzern ein neues Theater – sehr zur Freude aller Theaterfreunde. Der bestehende Bau im Stil des Klassizismus am linken Ufer der Reuss bei der bekannten Jesuitenkirche wurde 1839 eröffnet und im Laufe der Zeit mehrfach umgestaltet. Um ihn weiter zu nutzen, müsste er komplett entkernt und renoviert werden. Doch wesentliche betriebliche Verbesserungen liessen sich wohl trotzdem nicht erzielen. Und so entschieden Regierungs- und Stadtrat bereits im September 2019, dass ein Neubau erstellt werden soll. Im Oktober vorigen Jahres startete schliesslich ein zweistufiges Wettbewerbsverfahren. Den ersten Platz vergab das Preisgericht unter dem Fachvorsitz von Patrick Gmür an das Projekt «überall» von Ilg Santer Architekten.

Viel Lob von der Wettbewerbsjury

Die Jury lobte den Entwurf als spannungsreiche und eigenständige Komposition. Mit seiner Gliederung füge sich das neue Bauwerk sehr gut in den gebauten Kontext ein. Der Vorschlag verspreche eine differenzierte Abfolge von Bauten mit dem alten Theater, der Erweiterung und der Jesuitenkirche. Die Architekten sehen vor, das vorhandene Theatergebäude um einen grossen Neubau zur Jesuitenkirche hin zu erweitern. Dieser gliedert sich in drei Volumina: Auf einen sich horizontal entwickelnden Baukörper sollen zwei aufragende Gebäudeteile mit Satteldächern gesetzt werden. 

Der einstige Zuschauerraum würde zum mehrgeschossigen Foyer umgestaltet, und die Theaterbühne im Altbau würde zu einer experimentellen Studiobühne umgebaut. Der grosse Konzert- und Theatersaal ist ein Raum mit rechteckiger Grundfläche für 600 Besucher*innen. Über diesem liegt der Mittlere Saal, der sich mit einem grossen Fenster zur Reuss hin öffnet. «Durch die präzise äussere Gliederung des Theaters wirkt das Gesamtvolumen trotz seiner Grösse am Ort gut verträglich», befand die Jury.

So soll der Neubau neben dem klassizistischen Theater dereinst aussehen. An Visualisierungen wie dieser entzündet sich jedoch Kritik. Äussere Gestaltung und Grösse des Baus stossen auf teils heftige Ablehnung. (Visualisierung: © Ilg Santer)
Kritik, Beschwerden und die Flucht nach vorn

In der Bevölkerung jedoch fand «überall» nur wenige Freunde. Viele Menschen teilen die Einschätzung der Jury überhaupt nicht. Der Entwurf polarisiert stark. Der Hauptkritikpunkt ist das äussere Erscheinungsbild. Dies könnte auch mit unglücklichen Visualisierungen zu tun haben, die das Ensemble vom gegenüberliegenden Reussufer gesehen zeigen. «Optische Katastrophe», «Gebäude wie ein Kartenhaus» oder «ein blinder Getreidebunker» – das waren bisher noch die netteren Bezeichnungen, die in Leserbriefen an die Lokalpresse und den Kommentarspalten der sozialen Medien geäussert wurden. Die räumlichen Qualitäten des Entwurfs jedoch gingen darob völlig vergessen, meinen zumindest diejenigen, die von dem Vorschlag überzeugt sind. 

Ungemach droht indes auch aufgrund des Wettbewerbsverfahrens selbst; acht der insgesamt 128 Teilnehmenden haben Beschwerde vor dem Luzerner Kantonsgericht eingereicht, wie Ende vorigen Jahres bekannt wurde. Sie werfen der Jury vor, sie ungerechtfertigterweise von der Bewertung ausgeschlossen zu haben. 

Die Stadt Luzern möchte unbedingt vermeiden, dass nach dem Scheitern des Musiktheaters «Salle Modulable» vor rund sieben Jahren noch ein Kulturprojekt auf Grund läuft. Am 27. März hat sie in einer Medienmitteilung bekräftigt, noch immer hinter dem Ergebnis des Architekturwettbewerbs zu stehen. Der Stadtrat will das Projekt «überall» weiterverfolgen. In Absprache mit den Projektpartnern der Projektierungsgesellschaft und dem Team des Büros Ilg Santer soll der Entwurf allerdings überarbeitet werden, um auf die Kritikpunkte zu reagieren, die im Rahmen der Ausstellung zum Wettbewerb Anfang dieses Jahres immer wieder geäussert wurden. Es soll eine «über die Anregungen des Preisgerichts hinausgehende Überarbeitung» erfolgen. Denn aufgrund der breit und teilweise heftig geführten Diskussion über das Siegerprojekt fürchtet der Stadtrat, dass es bereits über den Projektierungskredit zur Abstimmung kommt und das Vorhaben an der Urne bachab geschickt wird. 

Mit einer «Schrumpfungskur» soll das Projekt der Bevölkerung doch noch schmackhaft gemacht werden. Auch eine Überarbeitung der Fassaden wurde den Architekten nahegelegt. (Grundriss und Schnitt: © Ilg Santer)
Redimensionierung als Ausweg?

Ilg Santer sollen über eine Verkleinerung der Kapazität des Grossen Saals nachdenken, sich mit einer Verkürzung des Bauvolumens in Richtung Jesuitenkirche auseinandersetzen und die Fassadengestaltung überarbeiten. Ganz grundsätzlich soll darüber hinaus das Volumen aller Innenräume einer kritischen Inventur unterzogen werden. Wie die Architekten selbst zu diesen Wünschen stehen, ist noch unklar. 

Gewiss ist, dass die bereits hängigen Beschwerdeverfahren zu einer Verzögerung des Vorhabens führen werden. Ehe die Kreditvorlage vor das Parlament gehen kann, müssen sie abgeschlossen sein. Wie lange dieser Prozess dauern wird, vermag die Stadt derzeit nicht abzuschätzen. Vermutlich wird es frühestens Ende dieses Jahres so weit sein, vielleicht aber sogar erst im Frühling 2024.

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