Der Wert der Veränderung
Das traditionelle Wertesystem der Denkmalpflege führe oft zu Konflikten zwischen Denkmal- und Gebrauchswert, sagt die Denkmalpflegerin und Architektin Silke Langenberg, die an der ETH Zürich forscht und lehrt. Sie schlägt vor, in Zukunft die Transformationsfähigkeit von Bauwerken als Wert aufzufassen.
Denkmalpflegerinnen und Denkmalpfleger befinden sich in einem steten Dilemma: Indem sie das architektonische Kulturerbe schützen und darüber entscheiden, was erhaltenswert ist, bestimmen sie auch über Abriss und Verlust mit. Die Denkmalpflegerin und Architektin Silke Langenberg forderte deshalb an der Tagung »Transformationswert der gebauten Umwelt« in ihrem einführenden Vortrag, die Transformationsfähigkeit von Bestandsbauten als eigenständigen Wert anzuerkennen. Nach ihrer Auffassung sollte bei hoch technisierten Gebäuden weniger deren Hülle und äußere Erscheinung als vielmehr ihre Grundstruktur im Vordergrund stehen, und bei zirkulären Bauten müsste der Transformationswert maßgebend sein. Die geplante Veränderbarkeit von Gebäuden sollte als Wert angesehen werden, um mehr Bauwerke zu erhalten und flexibler auf Veränderungen zu reagieren. Für die ETH-Professorin ist der Transformationswert somit ein Schlüsselbegriff für die Denkmalpflege der Zukunft.
Vor einem ähnlichen Konflikt, wie ihn Silke Langenberg in der Praxis erlebt, stehen auch Archivarinnen und Archivare. Werden (Wirtschafts)Archive gegründet, geht das meist mit dem Bedürfnis nach der Dokumentation und Sicherung der eigenen Position und Geschichte einher. Material auszusortieren, ist dabei ein notwendiger Bestandteil der Archivarbeit, der die Spreu vom Weizen trennt. Michael Farrenkopf, der das Montanhistorische Dokumentationszentrum, kurz montan. dok, in Bochum leitet, sprach in seinem Vortrag über diesen Selektionsprozess und die damit verbundenen Herausforderungen. Archivare sind für ihn aktive Gestalter der Überlieferung, die durch ihre Auswahl von Archivalien entscheiden, was erhalten bleibt. Es sei wichtig, sich bewusst zu sein, dass diese Bewertung ein irreversibler Prozess ist.
Farrenkopf diskutierte in seinem Vortrag verschiedene Bewertungsansätze, unterschied zwischen äußerem und innerem Archivwert und zeigte, dass eine isolierte Anwendung einzelner Bewertungswege problematisch ist. Die Lösung für Wirtschaftsarchive kann ein zweistufiges Bewertungsmodell sein, das eine vollständige Übernahme zentraler Stellen und eine reduzierte Übernahme nach formalen und inhaltlichen Kriterien vorsieht. Ähnlich wie Silke Langenberg in der Denkmalpflege argumentiert also auch der Archivar für ein differenziertes Vorgehen, das die jeweiligen Zusammenhänge und Funktionen berücksichtigt.
Der Transformationswert kann ein wichtiges Konzept sein, um die Herausforderungen der Denkmalpflege im 21. Jahrhundert anzugehen. Notwendig sei, darin waren sich alle Expertinnen und Experten einig, die Dynamik der Veränderungen als Teil des kulturellen Erbes zu verstehen. Nicht starre Regeln seien die Zukunft der Denkmalpflege, sondern vielmehr ein differenzierter und kontextbezogener Ansatz, der auf die jeweiligen Bedingungen und Anforderungen Rücksicht nimmt.
Tony Häfliger und Reto Bieli sprachen über die Denkmalpflege bei der SBB. Die Eisenbahn ist für die beiden Architekten ein komplexes, lebendiges System, das ständig in Betrieb sein muss. Die regelmäßige Erneuerung führe dazu, dass historische Bauten immer wieder umgestaltet und verändert werden – sei es aufgrund politischer Entscheidungen, technischer Neuerungen oder betrieblicher Notwendigkeiten. Ein griffiges Beispiel dafür sind die Schienen, deren Profile, Materialzusammensetzung und Machart sich seit den Anfängen des Bahnwesens immer wieder weiterentwickelt haben. Dieser Dynamik muss die Denkmalpflege Rechnung tragen, statt starre Erhaltungskonzepte anzuwenden.
Reto Bieli erläuterte die kniffligen Fragen, die bei der Bewertung solcher Infrastruktursysteme beantwortet werden müssen: Welche Substanz ist historisch bedeutsam? Und wie soll mit den Veränderungen im Eisenbahnbereich umgegangen werden? Als großtechnisches System besteht die Eisenbahn aus vielen Einzelelementen, die wie die Rädchen eines Getriebes ineinandergreifen. So könnten auch Objekte, die für sich genommen keine große Bedeutung haben, im Kontext des Gesamtsystems wichtig sein. Zudem stehen viele Bahnanlagen in Wechselwirkung mit Landschaft, Siedlungen und sozialhistorischen Verhältnissen und prägen so Orte. Dennoch wird laut Bieli immer wieder ein abstraktes Lifecycle-Management angewendet, das die Notwendigkeit von Reparaturen und den Erhalt der Substanz ignoriert und stattdessen vorschnell auf Ersatz setzt. Er argumentierte, dass der Transformationswert nicht nur als Konzept für das Verständnis der Vergangenheit, sondern auch als Instrument für die Gestaltung der Zukunft dienen kann. Ähnlich wie Silke Langenberg plädiert er für eine Haltung, die Veränderungen akzeptiert und die Fähigkeit zur Transformation als Wert anerkennt.
Die Tagung »Transformationswert der gebauten Umwelt« fand Ende Januar an der ETH Zürich statt. Sie wurde vom Leibniz-Forschungs-Verbund Wert der Vergangenheit und der Professur für Konstruktionserbe und Denkmalpflege der ETH Zürich gemeinsam veranstaltet.