Corporate Architecture als Kulturerbe
Manuel Pestalozzi
6. Juli 2018
Die zentrale Achse des Olivetti-Universums ist der Corso Jervis, der südlich des historischen Stadtkerns von Ivrea ein enges, durchgrüntes Seitental erschliesst. Bild: Maurizio Gjivovich/Guelpa Foundation
Die piemontesische Stadt Ivrea ist vor einigen Tagen in die Liste des internationalen Weltkulturerbes aufgenommen worden. Wesentlicher Grund dafür sind die modernistischen Fabrikbauten der Büromaschinenfirma Olivetti.
Die Würdigung des Ensembles, das neben Fabriken auch zahlreiche Wohnbauten für Angestellte umfasst, ist höchst begrüssenswert. In der Kleinstadt auf der Strecke über den Grossen St. Bernhard zeigt sich nämlich, wozu eine inspirierte und sozial engagierte Industriellendynastie bei der Schaffung architektonischer Qualität fähig sein kann. In unseren Zeiten der Fokussierung auf die kurzfristige Rendite, tut es wirklich gut, sich dieses gebaute Beispiel vor Augen zu führen.
Firmengründer Camillo Olivetti startete sein Unternehmen anfangs des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung einer Schreibmaschine. Von Beginn weg sorgte er für gute Arbeitsbedingungen, mit Betriebskrankenkasse, Kindergarten, Mütterfürsorge, Begabtenförderung und einem kulturellen Angebot für die Angestellten. Sein Sohn Adriano übernahm nicht nur die Firma, er gründete auch ein angesehenes Intelligenzblatt und führte eine föderalistische sozialliberale politische Bewegung an. Als progressiv gesinnter Zeitgenosse engagierte nicht nur avantgardistische Industriedesigner für die wachsende Zahl von Produkten, er beauftragte auch ab den späteren 1930er-Jahren die jungen modernistischen Architekten Luigi Figini und Gino Pollini mit dem Bau von Fertigungswerken, Wohnbauten und Betriebseinrichtungen für die erwähnten Betreuungsaufgaben.
Die Firma blieb diesem progressiven Ansatz treu. In späteren Jahren kamen die Werke weiterer namhafter Architekten hinzu: von Ignazio Gardella, Eduardo Vitella, Nizzoli und Olivieri sowie von Gabetti und Isola. Heute ist Olivetti als Betrieb nur noch ein Schatten seiner selbst. In den 1990er-Jahren begann auf dem Areal eine Deindustrialisierung, der sich auch in einem Rückgang der Bevölkerungszahl von Ivrea niederschlug. Bei einem Besuch im Jahr 2009 erlebte dieser Redaktor die Stadt als ein etwas gespenstisches «Freilichtmuseum», als das es auch angepriesen wird. Ivrea ist zu wünschen, dass dieses Erbe mit Bedacht und Sinn stiftend verwaltet und neuen Nutzungen zugeführt wird.