Wohnorte, Arbeitsorte, Verweilorte

Inge Beckel
26. Juni 2014
Rue intérieure. Bild: Müller Sigrist Architekten

Die Kalkbreite ist das physisch erste Resultat der hierfür neu gegründeten gleichnamigen Genossenschaft. 2006 tat sich eine Gruppe aus engagierten Quartierbewohnerinnen und -bewohnern und einigen Fachleuten zusammen. Sie bewarb sich für das 6350 Quadratmeter grosse Areal an der Bahnlinie, das sie inzwischen von der Stadt Zürich im Baurecht übernehmen konnte. 2008 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, der 2009 zugunsten von Müller Sigrist ausgefallen ist.

Stadt in der Stadt
Die Kalbreite wird Wohnraum sein für insgesamt 238 Menschen in 97 Wohnungen. Die Kleinwohnungen sind dabei zu Clustern verdichtet, die mit Gemeinschaftsraum und Küche ausgerüstet sind. Ein Grosshaushalt unterhält eine Grossküche mit gemeinschaftlichem Ess- und Aufenthaltsraum, wozu 20 Wohnungen oder rund 50 Personen zählen. Auch normale Wohnungen hat es im Komplex. Im Weiteren finden sich in den unteren Geschossen Gewerberäume von knapp 5000 m2. Die Genossenschaft hat sich dabei für einen bunten Mix aus Büros, Gewerbe und anderen Dienstleistungen entschieden – und dem Grossverteiler, der sich für den zentral gelegenen Standort beworben hatte, einen «Korb» gegeben. Eingezogen sind nunmehr etwa eine Kinderkrippe, Greenpeace oder der Bachser Märt – der samstags vor dem Laden einen Marktstand betreiben wird. Auch ein Kino hat sich eingemietet. Zudem kann man beispielsweise für Yoga, Seminare oder einen Verein Räume temporär anmieten. Mit 40 Prozent ist dies der grösste Gewerbeanteil einer Genossenschaftssiedlung in Zürich.

In der Mitte und gegen Nordwesten des Areals, unterhalb von Wohnungen, ist eine Einstellhalle für Trams untergebracht. So hatten die Architekten im Laufe des Projekts mit insgesamt vier Bauträgerschaften zu tun: Zuerst mit den VBZ wegen der Gleise für die Einstellhalle, dann mit den EWZ; unterirdisch befindet sich eine Transformatorenstation. Dann mit der Stadt Zürich für die Tramhalle und schliesslich mit der Genossenschaft bezüglich Wohnungen und Gewerbenutzung.

Halböffentlichkeit
Architektonisch aber zeichnen den Bau zwei andere Merkmale aus: einmal die Rue intérieure, die sie, erzählt Pascal Müller, im Schnitt entwickelt hätten – überhaupt sei der Schnitt hier für sie ein wichtiges Entwurfsmittel gewesen. Eine Rue interieure oder Erschliessungskaskade also führt durchs Haus. Ihren Ursprung hat sie im Foyer, verbindet auf verschiedenen Geschossen die Cluster der Kleinwohnungen mit den Gemeinschaftsräumen und führt schliesslich zur Terrasse und zu den Dachgärten.

Die Terrasse wiederum ist das zweite Wesensmerkmal des von Aussen recht gross und markant wirkenden Gebäudes. Sie liegt im zweiten Obergeschoss und wird rundum von einem Kranz aus Wohnungen gefasst. Somit erhält sie einen, stadträumlich betrachtet, fast intimen Charakter. Die Schaffung dieses 2000 Quadratmeter grossen Platzes – hier eben als erhöhte Terrasse ausgebildet – war eine der Auflagen der Stadt. Er ist über eine relativ steile Treppe erreichbar, die gegen Osten, wo auch Tram- und Bushaltestelle sind, offen ist und damit auch öffentlich wirkt. Oder vielleicht eher halböffentlich, da man ja doch durch einen Torbogen durch das Gebäudevolumen hindurch muss und damit – jedenfalls gefühlsmässig – privaten Raum betritt.

Gleichzeitig haben die wenigsten der Wohnungen einen eigenen Balkon. Und folglich keinen privaten Aussenraum. Die Dachgärten und die zentrale Terrasse werden so zu den Aussenräumen für die Bewohnerschaft. Wie diese einmal halböffentlichen oder dann wieder halbprivaten Aussenbereiche im Alltag genutzt werden, wird sich weisen. Dass sie einerseits erhöht sind und andererseits von Besuchern und Besucherinnen von ausserhalb nur über die eine Treppe erreicht werden können, wird ihre Privatheit für die Bewohnerinnen und Bewohner erhöhen.

Einstellhalle, Kino und Läden oder Arbeitsräume bilden architektonisch den Sockel; die zentral liegende Terrasse und die Wohnbauten, die unterschiedlich hoch sind, die Aufbauten. Diese Gliederung oder Proportionierung führt dazu, dass der Komplex – trotz seiner Höhe von bis zu acht Geschossen – grundsätzlich die Massstäblichkeit auch für Fussgänger wahrt. Die Fassaden sind als Lochfassaden ausgestaltet, wobei die Flächen in einem dunkleren, bräunlichen Ton gehalten sind, der optisch von gelben und orangenen «Kratzern» Sgraffito artig aufgelockert wird.

Spielwitz und Klarheit
Doch ist das Portfolio von Müller Sigrist sehr viel breiter gefächert als der Bau der Kalkbreite prima vista vermuten lässt. Man müsse aufpassen, meint Müller, dass man nicht auf eine Rolle beschränkt werde. Neben der Kalkbreite hat das Büro in Zürich Affoltern für die Genossenschaft Frohheim (2005–12) gebaut oder ist derzeit an der Realisierung von «Mehr als wohnen» auf dem Hunziker-Areal mitbeteiligt.

Müller Sigrist arbeiten auch oft für die öffentliche Hand. In Affoltern am Albis beispielsweise ist aus einem Wettbewerb ein Gemeindehaus mit Saal (2002–06) hervorgegangen: ein Konglomerat aus unterschiedlich hohen, horizontal gegliederten Kuben, aufgebaut aus Fensterbändern und Brüstungen aus eingefärbten Gläsern. Eine Besonderheit des Projektes ist, dass die vielen Deckenlampen im Saal – wird er einmal von nur einer kleinen Gruppe besucht – heruntergelassen werden können. Damit schrumpft der Saal sinngemäss in seinem Volumen, was das Wohlbefinden der Anwesenden steigert. Ein anderes öffentliches Vorhaben ist die Festhütte in Amriswil (2004–07), die es übrigens auf eine Briefmarke geschafft hat! Diese bildet eine polygonale Figur, wobei sich die metallene Aussenhaut gleichmässig vom Boden bis zum Dachfirst zieht. Somit wird der Eindruck von einem Zelt generiert, das jedoch auch an thurgauische Bauernhäuser der Umgebung erinnern kann.
Die Architektur nehme sich manchmal zu Ernst, sagt Pascal Müller. Bei aller Logik oder Klarheit, die auch ihnen wichtig sei, brauche sie etwas Spielerisches. Eine Portion Witz oder ein Schmunzeln, die einen für Momente aus der Härte oder Bedingtheit des Arbeitsalltags herausnähmen. Der Architekt gesteht, dass ihn die Lehren von Robert Venturi und Denise Scott Brown nachhaltig geprägt hätten. Sowohl, was die Komplexität oder eben oft Widersprüchlichkeit des Bauens anbelange, wie diese ersterer in seinem viel beachteten Buch Complexity and Contradiction behandelte. Oder was das Alltägliche angehe, wie bei Learning from Las Vegas.

Letztlich aber ist für Müller Sigrist Architekten die realisierte Form stets das Resultat eines Prozesses. Eines Prozesses, bei dem die Bauträger einen wichtigen Part einnehmen. Generell ist ihnen Teamarbeit eine Selbstverständlichkeit, auch innerhalb des Büros. Wie lange Müller Sigrist den Namen in dieser Form weiterführen werden, ist nicht klar. Anfang des Jahres ist Peter Sigrist nach längerer Krankheit gestorben; Samuel Thoma ist nun zweiter Partner. Zudem wurden Ende des letzten Jahres oder werden in den Jahren 2014 und 2015 zahlreiche Projekte fertiggestellt. Wir werden uns also mit Sicherheit etwas neu orientieren müssen, meint Pascal Müller. Wettbewerbe zur Akquisition stehen an. Gerne, so meint er, würde er einmal einen Kulturbau projektieren. Doch werde es auch Zeit zum Nachdenken geben, zum Durchatmen.

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