Was macht ein gutes Haus aus?

Inge Beckel
9. Februar 2013
Bild: Screenshot

Das Haus
In unserem Kulturkreis gelten die «Zehn Bücher über Architektur» des Marcus Vitruvius Pollio – oder schlicht Vitruv – als älteste uns bekannte Quelle der Architekturtheorie. Vitruv hat im ersten Jahrundert vor Christus als freier Bürger im Römischen Reich gelebt. Die Abschrift seines Lehrstücks soll aus dem 9. Jahrhundert datieren. Vitruv nannte als die drei primären Kriterien von guter Architektur: firmitas, utilitas und venustas – also Festigkeit, Nützlichkeit und Schönheit. Ein Bauwerk hat gut gebaut und stabil zu sein, weiter soll es dem Nutzer respektive der Nutzerin dienen und letztendlich hat es schön zu sein. Interessant ist, dass Vitruv die drei Kriterien als gleichwertig bewertet, keines ist gegenüber den anderen dominant – anders gesagt: Ein gutes Bauwerk erfüllt den Anspruch nach Festigkeit oder Stabilität, nach Funktionalität oder Nützlichkeit und nach Schönheit gleichermassen.

Später wurden die Ansätze Vitruvs wieder und wieder aufgegriffen, an neue Bedingungen angepasst und verfeinert. Zu den Klassikern gehört sowohl Leon Battista Alberti, der im 15. Jahrhundert gewirkt hat, als auch Andrea Palladio, der ein Jahrhundert später etwa seine «Vier Bücher zur Architektur» verfasst hatte.

Bild: Screenshot

Die Umgebung
Nun steht ein Haus jedoch höchst selten alleine auf weitem Feld. Meist steht es, grobmaschiger oder enger eingebunden, in einem dörflichen oder urbanen Kontext. Es ist also ein Nachbar von anderen Bauten, und diese sind seine Nachbarn. Wird ein Haus neu gebaut, ist es sinngemäss der Zugüger, der Neuling, der Fremde … Die den Zuzüger umgebenden Bauten sind entsprechend älter. Auf sie ist Rücksicht zu nehmen, in welcher Form auch immer. Sei es durch einen minimalen Grenzabstand, der gesetzlich festgelegt ist, sei es bezüglich der Körnung, der Volumetrie also, oder sei es bezüglich der Form und der Fassadengestaltung. Ob ein Haus sich nun in seine Umgebung eingliedert oder davon absetzt, kann sowohl von den bestimmenden Rahmenbedingungen – etwa bezüglich Ausnützung oder denkmalpflegerischen Anforderungen – abhängen, als auch von den Bauverantwortlichen, den Auftraggebern, und den Architekten und Architektinnen.

Doch auch eine urtümlich anmutende Landschaft ist eine Umgebung, auf die es zu reagieren gilt. Oder eine durch Landwirtschaft geprägte Umgebung. Denkbar ist ebenso eine Industrielandschaft. Stets prägen feste Elemente und variierende Stimmungen einen Ort, die es bei der Planung von etwas Neuem zu bedenken gilt.

Aus jüngerer Zeit sei hierzu Aldo Rossi genannt, der 1966 das Buch «L'architettura della città» veröffentlichte. Nach der Phase der Moderne, in der Vor- und Zwischenkriegszeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich von Geschichte, Überlieferung und Althergebrachtem zu befreien suchte und die Welt sinngemäss, vor dem Hintergrund der breit einsetzenden Industrialisierung, neu bestimmen wollte, berief sich Rossi wieder auf Geschichte – konkret jene der europäischen Stadt. Ein anderer Exponent von Architekten, die der Kontext interessiert, ist Robert Venturi. In demselben Jahr, als Rossi sein einflussreiches Buch publiziert hatte, erschien ein anderes, ebenso einflussreiches: «Complexity and Contradiction in Modern Architecture». Ob gewollt oder nicht, ein dazugefügtes Bauwerk lässt sich nicht immer harmonisch in seinen Kontext einbinden, Widersprüche sind alltäglich. Also nehmen wir sie als Herausforderung an, so Venturis Credo, verkürzt natürlich.

Bild: Screenshot

Der Mensch
Schliesslich aber geht es um den Menschen, dem ein Bau Schutz und Komfort bieten soll. Dabei zielen Nützlichkeit oder Zweckorientiertheit (im Sinne von form follows function) primär auf das Funktionieren eines Raums oder eines Hauses hinsichtlich der geplanten Nutzung. Denn das Raumprogramm des einen unterscheidet sich von jenem des anderen. Gleichzeitig aber gibt es innerhalb der Umsetzung oder Formfindung eines Raumprogramms wiederum unterschiedliche Ansätze. So unterscheidet man etwa den funktionalistischen vom rationalistischen Ansatz. Während ersterer primär auf nur eine Nutzung zielt (ein Schlafzimmer, ein Büroraum, ein Schulzimmer etc.), versucht der rationalistische Ansatz Räume möglichst «offen» oder derart auszugestalten, dass darin unterschiedlichen Tätigkeiten nachgegangen werden kann.

Exemplarisch genannt seien Le Corbusiers Schrift «Vers une Architecture» von 1923 oder Alvar Aalto, der – in der Nachkriegszeit Mitte des vorigen Jahrhunderts – weniger publiziert denn viel gebaut hat. Während Le Corbusier lange (unpersönliche) Maschinen als Vorbild dienten, interessierten Aalto (handwerkliche) Details, die den menschlichen Alltag bestimmen – wie Türgriffe, Beschläge oder Oberflächen.

Stabilität, Nützlichkeit, Schönheit. Ein Ort oder die Umgebung. Alles will berücksichtig sein. Letztendlich aber ist es (auch) die ein Haus bestimmende Atmosphäre, seine Stimmung, die es zu einem beliebten, ja geliebten Haus macht, oder eben nicht. Mit anderen Worten: Hat eine Architektin alle genannten Kriterien gewissenhaft analysiert, studiert und bearbeitet, so wird das geplante Haus nicht zwangsläufig zu einem guten Haus. Nach all dem Wissenschaftlich-Analytischen gilt es «mit dem Bauch» zu überprüfen, ob man in dem erdachten Haus denn auch leben, sich verweilen, arbeiten oder lehren möchte. So hat der Philosoph Gernot Böhme Atmosphäre schon als Reibung des Menschen mit der Umgebung umschrieben (vgl. etwa «Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik», Frankfurt a.M. 1995). Erst wenn ein Haus sich mit darin tätigen oder wohnenden Menschen reibt, entsteht Atmospäre. Erst dann ist es belebt. Zu einem guten Haus gehört in der Regel dann entsprechend auch, dass es belebt ist – und möglichst lange bleibt.

Vorgestelltes Projekt

atelier a;nou gmbh

Penthouse Bar im H4 Hotel, Solothurn

Andere Artikel in dieser Kategorie