Von Ordnungen und ihren Grenzen

Inge Beckel
13. Dezember 2012
Stadtszene II, Torre David, Caracas. Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung der Lars Müller Publishers GmbH/© Iwan Baan

Ja, die Stadt ist en vogue. Einmal, weil es chic ist, dort zu leben. Aber auch, weil diese Ballungsräume menschlicher Siedlungen vor Fragen stehen, auf die es heute keine klaren Antworten, sondern nur sehr unterschiedliche Ansätze möglicher Lösungen gibt. Entsprechend floriert auch die Fachliteratur zur Stadt. Inszenierung der Stadt. Urbanität als Ereignis etwa heisst ein jüngst erschienenes Buch im Transcript-Verlag, Metropole Zentralschweiz ein anderes, herausgegeben bei Park Books vom Bund Schweizer Architekten. Oder Südliches Bodenseeufer, denn, so heisst es in der Ankündigung beim gta-Verlag, die Ausbreitung der Stadt verbrauche Flächen und bedrohe die Kulturlandschaft. Also gehört auch das vielen wohl «ländlich» erscheinende Bodenseegebiet zum Themenkreis Stadt. Nur, was macht eine Stadt aus? Oder: Was nehmen wir als urban wahr? Gedanken dazu anlässlich sehr unterschiedlicher, ja entgegengesetzter – nicht schweizerischer – Beispiele.

Szenario I: Kontrollverlust?
Inmitten der südamerikanischen Stadt Caracas steht ein Turm, genannt Torre David. Geplant als Repräsentationsbau der Finanzwelt, aber nie fertiggestellt, steht er heute als Mahnmal im Geschäftsviertel der venezuelanischen Hauptstadt. Als Mahnmal einer sich teils überschätzenden Finanzbranche – gleichzeitig aber als Zeichen, dass Leben spontan neue und unerwartete Wege gehen kann. Denn der Torre David, das unfertige Hochhaus, beherbergt heute rund 750 Familien, die sich «ihren» Raum in den vielen, lange leer stehenden Stockwerken ungefragt erobert haben. Anstelle in den informellen Siedlungen an den Stadträndern wohnen diese Menschen mitten im Zentrum. Ohne Lift steigen sie bis in den 27. Stock – wobei ein Töfflitaxi über eine Rampe bis in den 10. Stock führt – und organisieren sich ihren Alltag innerhalb der gegebenen Freiräume wie der Grenzen des unvollendeten Baus. Das ETH-Professoren-Duo Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner hat dem ungewöhnlichen Haus jüngst eine Publikation gewidmet, wofür sie an der Biennale 2012 einen Goldenen Löwen (Film der Woche #45) erhielten.

Nun geht es nicht darum, die Realitäten dieses oft harten Lebens im informellen Sektor zu romantisieren. Doch zeigt das Beispiel, dass es Möglichkeiten gibt, jenseits unserer vielfach starren – europäischen oder nordamerikanischen – Regeln und unserer uns selbst oft einschränkenden Sicherheits- oder Komfortansprüche zu leben. Ob gewollt oder ungewollt, derlei improvisierte, unsichere Lebensumstände stellen eine mögliche Form städtischen Lebens dar.

Stadtszene III: Brasília

Die Frage nach dem Mix
Mitteleuropäer und Nordamerikanerinnen aber sind meist nach den Mustern einer anderen Urbanität gross geworden. Es ist das Muster der aufgelockerten Stadt, bekannt als die moderne Stadt: Dort stehen Bauvolumen verteilt im Grünen, ähnlich Bäumen in einem Park. Trennung oder Segregation war – ist zuweilen noch – das oberste Ziel, die Nutzungen sind zu trennen und auf unterschiedliche Zonen zu verteilen: Wohnen, Arbeiten, Freizeitaktivitäten, alle haben ihre je eigenen Flächen, wie auch die Infrastruktur. Überschneidungen verschiedener Lebensbereiche sind zu vermeiden. Die moderne Stadt folgt dem Ideal einer hygienisch einwandfreien, einer sauberen Stadt – durchlüftet und lichtdurchflutet bis in die letzten Winkel.

Gewisse Leute empfinden die moderne Stadt mit ihrer lockeren Bebauung und ihrer Vermeidung von Überschneidungen und Überlagerungen, welcher Art auch immer, jedoch nicht länger als urban. Ihr fehle der Mix, die Durchmischung unterschiedlicher Menschen, die – an demselben Ort – Verschiedenes tun. Das Aufeinanderprallen von Kulturen oder Ereignissen, also das Fehlen der Gleichzeitigkeit verschiedenen Tuns und Lebens, wie es in den frühen 1960er-Jahren schon die Soziologin Jane Jacobs eingeklagt hatte.

Moment im Torre David

Szenario II: Geplant und kontrolliert
Mit Blick auf Brasília, einem Prototypen einer modernen Stadt und geplant durch den erst letzte Woche mit 104 Jahren verstorbenen Oscar Niemeyer, meinte der niederländische Romancier Cees Nooteboom kürzlich: «Viele Beamte, so hörte ich, flüchten an den Wochenenden aus der segmentierten Stadt, die nach Funktionen aufgeteilt ist, weil der Architekt sich das so ausgedacht hat.» (Nooteboom, S. 45) Moderne Städte jedenfalls sind in ihrer Anlage übersichtlich, zuweilen wirken sie kontrollierend oder kontrolliert. Zudem ermöglichen sie ein Leben im Grünen. Und noch immer – oder allenfalls wieder – sehnen sich nicht wenige Menschen nach einem Leben im Grünen, wie die Flut an Zeitschriften zeigt, die das Leben auf dem Lande – teils verklärend – darstellen und sich besonders in städtischen Zentren enormer Absatzzahlen erfreuen.

Ob im Grünen oder im Stadtzentrum, ob ordentlich geplant oder spontan besetzt, die Suche nach adäquaten Formen des Lebens in künftigen Städten jedenfalls ist hochaktuell. Doch die Form oder Formel einer lebenswerten Stadt gibt es nicht und kann es nicht geben, denn nur schon die klimatischen Bedingungen von Städten wie Caracas, Bern, Brasília, Atlanta, Kairo oder Amsterdam beispielswiese sind verschieden: ihre tiefsten Temperaturen, ihre heissesten Tage, das Licht im Winter, im Frühjahr, Herbst oder Winter; die Beschaffenheit der Böden.

Balancen zwischen Kontrolle und Offenlassen
Das sind harte Faktoren. Zu den weichen gehören wohl die Menschen selbst: ihre Gewohnheiten, lokale Volkskulturen, die Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner, ihre Temperamente und Sehnsüchte. Die einen wollen Ordnungen, andere wollen partizipieren und ihre Umwelt aktiv verändern.
Für ihr Zusammenleben gibt es Regeln, die Pflichten und Rechte jedes Einzelnen benennen – auch jene der Gemeinschaft. Diese Regeln müssen erarbeitet, überprüft, um sie muss gerungen und über sie muss debattiert werden. Sie geben Rahmenbedingungen und lassen Freiräume. Sie sollen kontrollieren sowie den Menschen Eigenverantwortung überlassen – also Formen und Nutzungen gewisser, auch städtischer Gebiete offenlassen. Die Zeit der grossen Utopien sollte damit vorbei sein, haben Utopien doch meist etwas Absolutistisches.

So boten demgegenüber die Metropolen des frühen 20. Jahrhunderts beispielsweise allein lebenden Frauen zuvor ungekannte Möglichkeiten, ihr Leben selbständig und selbstverantwortet in die Hände zu nehmen. Heute sind es oft Migrantinnen und Migranten, die sich in Städten ein für sie besseres Leben erhoffen – und erarbeiten. Denn stets bleibt es zu bedenken: «Wie aber nutzen Menschen eine Stadt? Weiss der Architekt das vorher? Wenn die flüchtigen Abstraktionen und gezeichneten Umrisse auf seiner Entwurfszeichnung zu Menschen aus Fleisch und Blut geworden sind, ist er dann noch Herr über ihr Verhalten? Darüber, wie sie sich in seinen Gebäuden fühlen?» (Nooteboom, S. 26) Nooteboom umreisst damit die Grenzen der Planung und entsprechend einer vorstrukturierten Ordnung. Städte schliesslich sind ausbalancierte, zuweilen fragile Ordnungen.

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