Viele Ingenieurbauten haben etwas Geheimnisvolles
Gespräch mit Jürg Conzett, von Michael Hanak.Gespräch mit Jürg Conzett, von Michael Hanak.
Jürg Conzett, du hast an der letztjährigen Architektur-Biennale in Venedig den Schweizer Beitrag bestritten, mit der Ausstellung und dem Buch Landschaft und Kunstbauten. In dieser Ausstellung, die noch bis am 17. Juli im SAM in Basel zu sehen ist, vermittelst du dein «Interesse an konstruierten Bauwerken, die einerseits in der Spannung zwischen Technik, Tradition und Wirtschaftlichkeit stehen, die andererseits aber so gestaltet sind, dass sie bei Betrachterinnen und Betrachtern bestimmte Empfindungen hervorrufen». Um welche Empfindungen geht es?Das Bundesamt für Kultur fragte mich an, ob ich den Schweizer Beitrag an der Architektur-Biennale machen wolle. Ich war überrascht, dass ich als Ingenieur diese Aufgabe übernehmen sollte, sagte aber sofort zu. Denn so etwas wünscht man sich natürlich. Spontan kam mir die Idee für das Thema Landschaft und Kunstbauten, damit wollte ich mich tiefer auseinanderzusetzen. Der Rahmen der Veranstaltung gab mir die Freiheit zur Subjektivität. Ich musste mich nicht rechtfertigen, warum ich etwas in die Auswahl nahm und etwas anderes nicht – das wäre tatsächlich schwierig gewesen. Auf der einen Seite gibt es die rein auf Expressivität konzipierten Bauwerke, die ich oft etwas langweilig finde. Auf der anderen Seite gibt es das dumpf Pragmatische. Ich sehe es als eine Aufgabe des Bauingenieurs, ein Gleichgewicht zwischen den oft widersprüchlichen Anforderungen der Funktion und der Ästhetik herzustellen. In diesem Sinn sind Ausstellung und Buch ein persönliches Manifest.
Dem Schweizer Sonderfall muss ich natürlich widersprechen, denn Herausforderungen gibt’s auch anderswo. In der Ausstellung wollte ich nicht etwas besonders Schweizerisches zeigen. Herausstreichen möchte ich aber den Zusammenhang zwischen Ingenieurbau und Tourismus. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Albula-Bahn. Die Wiener Stadtbahn oder die Great Western Railway wären aber ebenbürtige Beispiele. Anders gesagt: Die schweizerischen Ingenieurbauten reflektieren immer auch Einflüsse aus dem Ausland.
In Bezug auf Ingenieurbauten würde ich anstatt von Schönheit eher von Stimmigkeit sprechen. Bei den Fotoaufnahmen letztes Jahr auf dem Sustenpass wurde mir klar, dass diese Passstrasse von den vielen kurzen Tunnels lebt, so dass die Geländerippen nie unterbrochen werden. Dahinter steckt eine einleuchtende Grundhaltung gegenüber der Landschaft. Entsprechend fatal ist es, wenn diese Tunnels, die rein technisch gesehen vielleicht überflüssig sind, bei irgendwelchen Problemen aufgeschlitzt werden: Dann geht ein wesentliches Merkmal verloren.
Das Ziel der umfassenden Funktionserfüllung halte ich nach wie vor für richtig. Wenn ich zurückblicke, was ich selbst in den letzten 20 Jahren projektiert habe, so war der Funktionsbegriff ganz zentral. Beim zweiten Traversiner-Steg an der Viamala galt es, mit minimalen Mittel über die Schlucht zu kommen. Die Kritik am ersten Projektvorschlag zeigte mir, dass das pur Rechnerische, Festigkeit und Kosten, in diesem Fall falsch gewesen wäre. Daraufhin haben wir den Aspekt, wie man sich auf der Brücke fühlt, weiter entwickelt. Man kann die getroffenen Massnahmen als psychologische Funktion bezeichnen – im Sinne eines weit gefassten Funktionsbegriffs. Bei der Erhaltung von Bauwerken muss man solche Grundsätze zuweilen verletzen, im Hinblick auf eine Erinnerung, die man bewahren möchte.
Tatsächlich haben die meisten Ingenieurbauten etwas Geheimnisvolles, das man nicht ohne weiteres verstehen kann. Die Faszination an etwas schwer Erklärlichem weckt bei mir die Lust am Entdecken. Leider haben sich die Ingenieure oft über ihre Werke ausgeschwiegen. Doch es gibt durchaus historische Quellen, wie die Schweizerische Bauzeitung, um die Gedankengänge nachzuvollziehen. Es ist ein befriedigendes Gefühl, Beziehungen zwischen Bauwerken und der Umwelt zu erkennen. Hinter der Ausstellung steckt der Wunsch, aufzuzeigen, wo Interessantes verborgen ist.
Momentan ist man daran, das mangelnde Wissen über historisch bedeutsame Ingenieurbauten nachzuholen. Verschiedene Denkmalpflegeämter und Bahngesellschaften setzen sich intensiv damit auseinander. Die Frage nach der Bewahrung von Kunstbauten würde ich nicht auf die technische Ebene schieben, es ist mehr eine emotionale Angelegenheit. Will man etwas bewahren? Wenn man will, dann spielt man alle Möglichkeiten durch, die’s gibt. Grundlegend ist dabei der Ansatz, die Nutzung der Bausubstanz anzupassen, und nicht umgekehrt.
In die Ausstellung habe ich das Farbtobel-Viadukt der Chur-Arosa-Bahn aufgenommen. Wir haben lange diskutiert, wie diese steinerne Brücke, die durch Geländeverschiebungen deformiert wurde, zu retten ist. Vernünftigerweise wurde beschlossen, parallel daneben eine neue Brücke zu bauen. Die alte Brücke hat man stehen lassen: Sie trägt jetzt zwar keine Züge mehr, wirkt aber als eine Art Schutzschild für die neue Brücke.
Es gibt die Charta von Venedig und andere Grundsätze, die man benutzen kann. Wichtiger scheint mir die fortschreitende Erfahrung an Einzelbauten. Damit wächst der Katalog an möglichen Massnahmen. Aktuelle Beispiele wie die Dalvazza-Brücke bei Küblis von Niklaus Hartmann oder die Gmündertobel-Brücke zwischen Stein und Teufen von Emil Mörsch zeigen, wie ausschlaggebend die spezifischen Voraussetzungen der einzelnen Bauwerke sind: Dimension, Zugänglichkeit, Baustelleninstallation, Inanspruchnahme und Bedeutung haben Einfluss auf die Schutzmassnahmen. So sind die Obergurte der Dalvazza-Brücke leicht zugänglich, und wir haben dabei nur das Nötigste instandgesetzt, im Wissen, dass man in zehn, zwanzig Jahren vielleicht lokal wieder etwas vorkehren muss, während bei einem Bauwerk der Dimensionen der Gmündertobel-Brücke schon das Hinkommen an eine Schadensstelle einen grossen Aufwand darstellt, da muss man deshalb stärker präventiv arbeiten.
Das kann ich unmöglich so rasch beantworten. Ich kann einen Aspekt herausgreifen: den der Massenkultur. Zur Eröffnung der Sustenpassstrasse kam seinerzeit ein Viertel aller Autofahrer der Schweiz, um das neue «Nationaldenkmal» zu bewundern – das rückt sie in die Nähe der Popkultur. Womit wir wieder bei der Anfangsfrage nach der Tradition des Bauens und seiner Rezeption angelangt sind. Das ist ein Themenkreis, über den sich nachzudenken lohnt.
Wir Ingenieure sollten vermehrt versuchen, die Faszination und das Staunen vor gebauten Werken weiterzugeben. Während diesem Interview wollte ich darauf hinweisen, wie vielfältig und vernetzt die Beziehungen sind, in denen der Ingenieurbau steht.