Urban muss nicht dicht sein

Inge Beckel
3. November 2011
Mulegns an der Joulierroute im Winter.

Die Agglomeration gilt als antistädtisch, als nicht urban. Bezogen auf ihre Bevölkerung aber sind Agglomerationsgebiete heute in der Regel dicht. Wallisellen wird wohl demnächst 14'000 Einwohnerinnen und Einwohner zählen, in Buchs im St. Galler Rheintal sind es heute gut 11'000 Leute, die da wohnen, und in Köniz im Kanton Bern gar rund 40'000.

Prämissen
Nun sind grosse Teile der Siedlungsstrukturen von Agglomerationen «aufgelockert», von «grünen Lungen» durchzogen, gegliedert, ganz wie es der Städtebau der Moderne forderte. Man trennte Funktionen, das Arbeiten vom Wohnen, die Freizeit vom Verkehr. Zudem sollten die zur Zeit einer forcierten Industrialisierung um 1900 vielerorts feuchten und unhygienischen Städte, die damals sowohl dicht bebaut wie dicht bewohnt waren, durchlüftet und bis in die hintersten Winkel besonnt werden. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs kam eine weitere Erkenntnis dazu: Kompakte, dicht bebaute Stadtquartiere forderten bei Luftangriffen mehr Menschenopfer als ländlich strukturierte, gegliederte Gebiete. Das Ziel im Siedlungsbau des frühen 20. Jahrhunderts bis weit in dessen zweite Hälfte hinein war klar: Es galt, die Städte aufzulockern, sie sollten von Sonne und Licht durchflutet werden.

Die Kehrseite der Medaille ist inzwischen hinlänglich bekannt: Aufgelockerte Städte führen zu Zersiedelung, tragen jedenfalls dazu bei. Entsprechend lautet nunmehr eine seit gut 30 Jahren geforderte Maxime des Städtebau: beschränken der Siedlungsgebiete, verdichten der bestehenden, kompakt bauen. Während kompaktes Bauen in der Regel als urban gilt. Heute aber ist diesbezüglich Vorsicht angesagt. Denn vor dem Hintergrund weiter steigender Quadratmeterzahlen pro Einwohnerin und Einwohner weisen baulich verdichtete Quartiere zuweilen keine höheren Bevölkerungszahlen auf. Dennoch: Ob kompakt und urban oder aufgelockert und gegliedert, die Städte mit ihren Agglomerationen, die Metropolitanregionen, sind hierzulande relativ dicht besiedelt. Und ihre Dichte und der Druck auf sie nehmen weiter zu. Sie stehen gewissermassen unter einem «Überdruck».

Die noch helle Ustria Steila mitten in Siat (Bild: ustriasteila.ch)

«Unterdruck»
Nun finden sich ausserhalb der Metropolitanregionen sehr wohl dicht gebaute, urban wirkende Orte, deren Einwohnerzahlen aber am Schrumpfen sind. Mulegns auf der Julierroute ist so ein Ort. Er weist gegen 40 Bauten auf, die aktuelle Bevölkerungszahl lautet: 21. Doch im Ort gibt es einen Gasthof mit Übernachtungsmöglichkeit, das Hotel Löwe, das Donata Willi, die Besitzerin, seit dem Tod ihres Vaters im Jahre 1959 führt. Heute ist sie über 70-jährig und will den Betrieb verkaufen. Die Substanz des Altbaus ist gut unterhalten, gleichzeitig stehen grössere, mitunter technische Investitionen an. Früher war das Gasthaus Etappenziel auf dem Weg ins Engadin – und heute? Das Hotel – und damit indirekt der Ort – steht vor einer ungewissen Zukunft.

Weil das Schicksal des Hotel Löwe für Regionen abseits der wirtschaftlichen und touristischen Primärinteressen exemplarisch ist, hat der Bündner Heimatschutz am vergangenen Samstag seine Generalversammlung im Saal des Hotel Löwe abgehalten, über 60 Personen kamen. Eingeladen waren weiter Vertreter vergleichbarer, peripher gelegener Orte aus dem Kanton Graubünden, denen jüngst ein Neuanfang – mit Restaurationsbetrieben – gelungen ist. Ziel der Veranstaltung war es, Möglichkeiten kennenzulernen und zu diskutieren, wie Orte, die bezüglich der Nachfrage nicht unter hohem, also unter «Überdruck» stehen, sondern vielmehr einem «Unterdruck» ausgesetzt sind, in eine eigenständige Zukunft geführt werden können. Als Referenzbeispiele dienten diesmal die Ustria Steila in Siat in der Surselva, das Gasthaus Piz Tschütta in Vnà im Unterengadin sowie das Kurhaus Bergün.

Gasthaus Piz Tschütta in Vnà (Bild: Piz Tschütta AG)

Referenzen
In Zürich ist Theo Schaub ein erfolgreicher Maler-Unternehmer, in seiner Freizeit aber ist er oft in Siat oberhalb von Rueun anzutreffen. Als im kleinen Dorf die letzte Gaststube schloss, sagte er sich, das darf nicht sein. Weil er am Gebäude der alten Gaststube, einem «regionalistischen» Bau aus den 1970er-Jahren, aber keinen Gefallen fand, kaufte er eine leere Parzelle im Dorfkern, sicherte sich ein Näherbaurecht und machte sich an die Planung eines neuen Gasthauses – zusammen mit Gion A. Caminada. Seit einem knappen Jahr ist die Ustria Steila nunmehr eröffnet und wird von Einheimischen wie Gästen geschätzt. Rund drei Jahre ist das Piz Tschütta in Vnà oberhalb von Ramosch eröffnet; umgebaut von Christof Rösch und Rolf Furrer, zum Entwicklungs- und Leitungsteam gehört weiter Urezza Famos aus Sent. Das Piz Tschütta ist grundsätzlich als dezentrales Hotel angelegt, was heisst, dass gewisse Zimmer ausserhalb des Gasthauses in Privathäusern untergebracht sind. Eine gute Idee, die weiter optimiert wird, während man über Ausbaumöglichkeiten nachdenkt.

Knapp 100 Jahre nach Eröffnung 1906 wurde 2002 der Betrieb des Kurhauses Bergün eingestellt. Langjährige Stammgäste fanden sich in der Folge zusammen und gründeten eine Aktiengesellschaft. Unter der Leitung von Heini Dalcher wurde das Haus dann saniert, oder, wie sich der Architekt selbst ausdrückt, vielmehr «geflickt». Denn unter grossem Engagement der Beteiligten wurde mit bescheidenen Mitteln – der Kubikmeterpreis lag bei 148 Franken – die ursprüngliche Substanz wieder instand gestellt, zuweilen unter späteren Aufbauten und Anstrichen herausgeschält und wieder hergestellt. Das Haus erhielt kürzlich die Auszeichnung Historisches Hotel 2012. Siat, Vnà, Bergün: Drei Beispiele, wie Gasthäuser in entlegenen Orten betrieben werden können – womit sie dazu beitragen, kleine Orte als funktionierende Lebensgemeinschaften zu erhalten oder wieder zu beleben.

Ungewiss
Diese Herausforderung steht Mulegns noch bevor, Einheimische wie interessierte Auswärtige sind gefordert. Der Architekt Conradin Clavuot arbeitet derzeit mit Studierenden der Universität Liechtenstein an Zukunftsstrategien des Hotel Löwe; ein Sozialprojekt mit Jugendlichen ist am Ort und am Bau interessiert, die veranschlagte Investitionssumme von über fünf Millionen Franken jedoch ist zu hoch für dieses Projekt. Ein Problem stellt weiter die das Dorf durchquerende Julierstrasse dar, womit Mulegns als ruhiger Höhenkurort nicht in Frage kommt. Städtebaulich demgegenüber handelt es sich um einen nicht dichten, aber urbanen Ort, dessen Ortsbild nicht zersiedelt, sondern gut erhaltenen und wohl einzigartig ist. Innovative Ansätze, gute Ideen und schliesslich Mittel sind gefragt. Denn will man die Vielfalt der Schweizer Siedlungs- und damit Kulturlandschaften erhalten, gilt es, nicht nur die monetär «lukrativeren» Zentren zu pflegen, sondern auch die Differenzen dazu. Und damit auch kleine, peripher gelegene Orte mit ihren Eigenheiten und Besonderheiten, mit ihren Risiken, aber auch ihren spezifischen Freiheiten und damit Chancen.

Weiterführende Informationen zu Orten und Gasthöfen:

Mulegns
Hotel Löwe, Mulegns 
Ustria Steila, Siat
Piz Tschütta, Vnà
Kurhaus Bergün
Historisches Hotel 2012

Zu städtebaulichen Fragen der Dichte oder aufgelockerten Stadt siehe u.a. etwa:

Nikolai Roskamm, Dichte. Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Diskurse zu Stadt und Raum, Reihe Urban Studies, Transcript-Verlag, Bielefeld 2011

Vera Vicenzotti, Der »Zwischenstadt«-Diskurs. Eine Analyse zwischen Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt, Reihe Urban Studies, Transcript-Verlag, Bielefeld 2011

Vorgestelltes Projekt

VERVE Architekten GmbH SIA SWB

Zelthaus Biel-Bienne

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