Sich über den Weg laufen
Inge Beckel
23. März 2017
Ein Waschsalon als ein Ort, sich zufällig über den Weg zu laufen. Bild: Siedlung Kalkbreite
Wir alle leben in Nachbarschaften. Haben Nachbarn. Unabhängig davon, ob wir sie flüchtig oder gut oder gar nicht kennen. Eine Studie der Hochschule Luzern hat ihre Funktionsweise untersucht.
Daselbst ist es das Institut für Soziokulturelle Entwicklung im Departement Soziale Arbeit, das sich vor drei Jahren dem Thema Nachbarschaft angenommen hat. Zusammengearbeitet wurde mit 15 Partnerorganisationen, neben dem Bundesamt für Wohnungswesen BWO etwa verschiedenen Genossenschaften. Denn Basis der Untersuchung respektive Studie bilden genossenschaftliche Siedlungen. So seien Genossenschaften mit ihrem Selbstverständnis, ihrem Erfahrungswissen und den Mitwirkungsstrukturen prädestiniert, sich mit Nachbarschaftsmodellen auseinanderzusetzen, meint Soziologin und Projektleiterin Barbara Emmenegger von der Hochschule Luzern.
Anlass zur Studie bildete einerseits die heutige Forderung und Notwendigkeit, bestehende Siedlungen nach innen nachzuverdichten. Andererseits der Umstand, dass die in der Schweiz lebende Bevölkerung immer vielfältiger wird. Als Folge davon verwundert es nicht, dass ein Ergebnis der Studie heisst: Die Nachbarschaft gibt es nicht. Vielmehr sind es viele verschiedene Formen von Nachbarschaften, die unseren Alltag prägen. Doch noch etwas haben die Forscherinnen festgestellt: Lose Beziehungen machen einen Grossteil der nachbarschaftlichen Kontakte aus. Und sie sind ausschlaggebend dafür, ob man sich im eigenen Wohnumfeld sicher und wohl fühlt.
Heimstätten-Genossenschaft Winterthur, gemeinsames Erstellen des Kinderspielplatzes. Bild: HGW
Irgendwo zwischen Anonymität und «Intimität»
«Schon das Wissen um die Möglichkeit, im Notfall auf die Hilfe der Nachbarn oder Nachbarinnen zurückgreifen zu können, scheint wichtig zu sein für das Wohlbefinden»[1], sagt Emmenegger. Es ist das blosse Wissen, dass in der Nähe jemand Bekannter ist, das das Gefühl von Sicherheit erhöht. Mit Blick auf mittlere und grosse Städte ist es demgegenüber oft auch eine gewisse Anonymität, die wir schätzen. So haben die meisten gelegentlich wohl das Bedürfnis, sich von den Nachbarn abzugrenzen. Entsprechend meinte Autor und Aktivist P.M. einmal, «der Schrecken traditioneller Dörfer mit ihrer bedrückenden sozialen Kontrolle sitzt vielen von uns noch in den Knochen.»[2] Doch sagt er weiter auch, dass, kaum haben wir eine gewisse, uns lieb gewordene Anonymität etabliert, «überfällt uns schon wieder die Angst, alleingelassen zu werden, und wir sehnen uns nach dörflicher Nähe». Es ist infolgedessen nicht so leicht, in seinem Umfeld die richtige Mischung aus freundschaftlicher Nähe und geschützter Abgrenzung zu finden.
Möglichkeitsräume
Was es braucht für gut funktionierende Nachbarschaften – in welcher Form sie auch gelebt werden wollen – sind Möglichkeitsräume. Als solche werden erstens physische Räume oder Orte bezeichnet. Ein Gemeinschaftsraum etwa oder ein Innenhof in einer Siedlung. Ein Spielplatz vielleicht. Ein Ort mit einer Boule-Bahn, ein paar Tische und Bänke. Orte, wo man sich vom Frühjahr bis in den Herbst mit Kindern aufhalten und dabei Bekannte zu einem Schwatz treffen kann. Oder dann zu einem abendlichen Bier oder Boule-Spiel. Andererseits sind Möglichkeitsräume für die Luzerner Forschenden auch strukturelle Einrichtungen. Also beispielsweise Gremien oder lose Zusammenschlüsse, die das Leben in einer Nachbarschaft für die daran Teilnehmenden gestalten und prägen. Folglich sind Möglichkeitsräume nicht nur «physische Gefässe» oder Orte, wo sich Menschen begegnen. Sondern es braucht gleichzeitig Strukturen und Einrichtungen, die es den Menschen, die dies wünschen, gestatten, sich zur selben Zeit am selben Ort zu treffen, um gemeinsam etwas zu tun.
Das Soziale stärken
Eine andere Erkenntnis der Studie betrifft einen weiteren strukturellen Aspekt, der vor allem Genossenschaften betrifft. So erfreuen sich letztere bekanntlich einer steigenden Beliebtheit – einerseits sicherlich wegen ihrer erschwinglichen Mieten, andererseits auch aus sozialen Gründen. Doch haben Genossenschaften gleichzeitig oft Mühe, ihre klassischen Gremien zu besetzen – Vorstände mit den Funktionen einer Präsidentin, eines Protokollführers und Kassierers. Derlei Ämtchen werden stark als Pflicht empfunden, sagen die Forschenden. Demgegenüber sei es oft kein Problem, Bewohnerinnen und Bewohner zu finden, die sich bereit erklären, beispielsweise beim Einrichten eines Spielplatzes zu helfen. Oder bei der Gartenarbeit des gemeinschaftlichen Hofs mitzuarbeiten. Nachdem viele Genossenschaften ihre Bau- und Betriebsprozesse professionalisiert hätten, müsste der Fokus nun vermehrt auf das Soziale gelegt werden, um nach dem Schub des quantitativen Wachstums fortan das qualitative Wachstum zu fördern, folgert Emmenegger.
Architektur ist mitverantwortlich
Welchen Stellenwert aber nehmen Architektur und Städtebau ein? Sie sind mitverantwortlich, ob eine Nachbarschaft besser oder schlechter funktioniert. Neben den Gemeinschaftsorten braucht es natürlich die privaten Rückzugsorte: die Wohnungen mit ihren Privaträumen und meistens einem Balkon oder kleinen Privatgärtchen. Wichtig ist dabei das Verhältnis von privaten zu gemeinschaftlich nutzbaren Räumen. Eine Architektur, die Gemeinschaft und Nachbarschaft fördert, bietet vielfältige Möglichkeiten, wo man sich begegnen kann. Es geht um Angebote, Optionen, um die Möglichkeit, jemandem zu begegnen. Sei es in einem offenen Treppenhaus, das zu einem Schwatz einlädt. Seien es Sitzbänke im Eingangsbereich oder im Hof. Oder eine attraktive Gemeinschaftswaschküche. So will etwa die Gemeinnützige Bau- und Mietergenossenschaft Zürich GBMZ nach den guten Erfahrungen in der Siedlung Klee in Zürich weitere Waschküchen auf Dächern planen. Und zu guter Letzt spielt sicherlich auch die An- oder Einbindung der Siedlung im Quartier eine wichtige Rolle.
BEP-Siedlung, Industrie 1. Bild: HSLU
Vgl. auch: Räumliche Ordnungen als Ausdruck sozialer Praxen. Gespräch mit Barbara Emmenegger, in: eMag 39/10, vom 30. September 2010.