«Parallelwelt» Verkehr?
Inge Beckel
15. September 2016
Christa Baumgartner, Stadtlandschaften (Überlandstrasse mit Autobahn). Bild: Galerie Sam Scherrer Contemporary, Zürich. Ausschnitt.
Der Siedlungsraum wächst, trotz aller Verdichtungsbemühungen. Und mit ihm die Infrastrukturfläche. Dabei sind die Planungen für die Siedlungen und jene für den Verkehr oft schlecht koordiniert. Anstatt gegenseitig integriert, verlaufen sie parallel.
Vergangene Woche widmete sich ein Abendanlass im Architekturforum Zürich diesem Thema, der vom Netzwerk frau + sia veranstaltet worden war. Sandra König und Alexa Bodammer organisieren dort, im Namen des Netzwerks, regelmässig Praxisgespräche. Letzte Woche also galt der Dienstag der (fehlenden) Integration der Verkehrsinfrastruktur in die Stadtentwicklungsplanung.
Anhaltendes Wachstum
Erste Referentin war Nationalrätin und VCS-Präsidentin Evi Allemann. Ihr Fokus lag auf dem weiterhin starken Wachstum der Agglomerationsräume. Dieses Wachstum wird vor allem in den die historischen, grösseren Stadtkerne ummantelnden Siedlungsräumen weiter anhalten. So leben hierzulande 73 Prozent der Bevölkerung in Agglomerationen und 70 Prozent der Arbeitsplätze sind in den Agglomerationskernen konzentriert. Während 78 Prozent des Verkehrs in Agglomerationen stattfindet. Wobei besonders die Pendlerbewegungen hoch sind. So stieg der Anteil interkommunaler Pendler und Pendlerinnen von 59 Prozent im Jahre 1990 auf 70 Prozent in 2014. Woraus man einerseits folgern kann, den öffentlichen und den Langsam-Verkehr auch inskünftig fördern zu müssen. Ebenso die Anstrenungen, den bestehenden Siedlungsraum nach innen zu verdichten, weiterzutreiben. Wichtig ist andererseits, so Allemann, das jeweils lokale Wirtschaften zu unterstützen. Ein anderer Fokus muss der Bevölkerung gelten, die verstärkt für die Problematik sensibilisiert werden sollte.
Nutzungszonenplan mit eingefärbten Zonen, heisst es in der Legende. Strassen und Plätze bleiben weiss. Eine Zone ausserhalb der so genannten Nutzungszonen? Bild: bern.ch.
Hierarchische Zuständigkeiten
Bei der folgenden Referentin, der Berner Stadträtin und Planerin Gisela Vollmer, wurde es sehr anschaulich, denn sie berichtete von konkreten Beispielen ungenügend koordinierter Planungen zwischen dem Siedlungs- und dem Infrastrukturraum in der Stadt Bern. Anschaulich etwa ist das Dreieck zwischen der Weissensteinstrasse – einer Kantonsstrasse –, der Nationalstrasse A12 und einem Gleisfeld der SBB in Bern Ausserholligen. Dort beträgt die Entfernung zwischen der Zug-Haltestelle Europaplatz und der Tram- und Bus-Haltestelle Europaplatz gut 100 Meter, was schnelles Umsteigen in den eng getakteten Fahrplänen verunmöglicht. Zudem ist der S-Bahn- und Tram-Haltestelle nur die Hälfte des Gebiets angeschlossen, weil Bahnlinien dazwischen liegen. Auch mit dem geplanten Entsflechtungsbauwerk ist weder eine ebenerdige noch unterirdische Verbindung möglich. Deshalb ist nun ein Steg, eine geschwungene Langsamverkehr-Passerelle, vorgesehen, die räumlich nicht unproblematisch ist. Ein anderes gezeigtes Beispiel betraf die Optimierung eines Verkehrskorridors in Bern Süd im Umfeld von Wankdorfplatz und Paul-Klee-Zentrum. Dort machte der Verein Fussverkehr Kanton Bern zu einem projektierten Ausbau des Strassennetzes eine Einsprache. Gegen diese wurde ein Nichteintretensantrag verfügt – mit dem Argument, dass ja gar kein Fussweg geplant und der Verein folglich am Verfahren nicht zugelassen sei. Dabei reklamierte er ja gerade, dass der Fussweg fehlt!
Zeit für Überlagerungen und gemeinsames Nutzen
Darauf sprach Philippe Cabane, Soziologe, Städteplaner und Inhaber einer Firma für Urbane Strategien & Entwicklung, der seine Sporen in Basel abverdient hat und heute international tätig ist. Cabane plädierte vor allem dafür, endlich von der Philosophie der modernen Stadtplanung und insbesondere Verkehrsentwicklung abzurücken. Denn das Trennen und Auseinandernehmen der einzelnen Nutzungen – des Autofahrens, des Velofahrens und der Fussgängerinnen und Fussgänger – braucht Platz. Viel Platz. Und dieser Platz ist auch in Schweizer Verhältnissen zusehends umkämpft. Zudem stösst das Auseinandernehmen und Nebeneinanderlegen von Trottoir, Velowegen und den verschiedenen Spuren des motorisierten Verkehrs stadträumlich an Grenzen, indem es Plätze und öffentliche Räume sprengt. Die Zeit der Entfechtungen ist vorbei! Auch wenn die Bemühungen in eine nachhaltige Verkehrsinfrastruktur wie Velowege fliessen. Angesagt ist demgegenüber das gemeinsame Nutzen der Verkehrsflächen, wie ein Beispiel aus Shanghai exemplarisch zeigt (Bilder ganz unten).
Hochstrasse für Autos (1960er-Jahre) und Hochtrassee für Velos. Bilder: Stadtarchiv Düsseldorf (oben); DISSING+WEITLING architecture (unten).
Sensibilisieren und bewusst werden
Für solche Verkehrsknoten – wie die Screenshots aus dem Video unten zeigen – muss heute die Schweizer Bevölkerung allerdings sensibilisiert werden. Ein gewisses Sich-daran-Gewöhnen ist Voraussetzung, wollen wir uns weiterhin möglichst unfallfrei fortbewegen. Einige Ältere unter den Leserinnen und Lesern werden sich jedoch sicherlich daran erinnern, wie ihnen als Kinder vor dem Über-die-Strasse-Gehen eingeimpft wurde: LOSE, LUEGE, LAUFE. Was nichts anderes heisst, als dass man sich der Schwierigkeiten und Konflikte im Verkehr bewusst werden – und als Verkehrsteilnehmerin und Teilnehmer Eigenverantwortung übernehmen muss. Etwas, das ja Evi Allemann schon erwähnte und sich auch der VCS auf die Fahne geschrieben hat.
Woran wir uns dabei wohl gleichzeitig gewöhnen müssen, ist, mit einer gewissen Unordnung umzugehen. Denn rückt man von strengen Zuteilungen im Sinne des modernen form follows function ab, ist nicht mehr von vornherein klar, was im einzelnen auf einer spezifischen Fläche oder im öffentlichen Raum stattfindet. Gleichzeitig fordern wir Dichte in unseren Städten und auch in den Agglomerationen. Und wir fordern Durchmischung – wollen wir doch in demselben Quartier leben, einkaufen, die Kinder betreuen oder allenfalls arbeiten und uns vergnügen können. Überlagerungen in Verkehrsräumen sind nichts anderes als Durchmischung in der Stadtentwicklungsplanung. Bauen wir nun aber durchmischt oder «überlagert», bauen wir automatisch dicht. Oder jedenfalls dichter.