Neulich am Yangzhong-See

Katinka Corts
12. März 2015

Chinesen lieben Paris. Und das so sehr, dass sie ganze Strassenzüge der französischen Hauptstadt in Tianducheng nahe der Millionenstadt Hangzhou nachempfunden haben. Mit Eiffelturm, Triumphbogen und «Champ de Mars». Ähnliche Bilder gibt es in Songjiang, wo «Thames Town» mit roten Telefonzellen und gotischer Kirche britische Architektur vorgaukelt, aber auch direkt in Shanghai (echt holländisch mit Gracht) und im südchinesischen Boluo (mit einer Kopie des österreichischen Alpenorts Hallstatt). Viel Wohnraum wurde geschaffen, damit die Städter der grossen Metropolen «hübsche» Alternativen zum Wohnen haben. Doch die neuen Grossstädte fühlen sich nicht nur künstlich an, sie sind auch praktisch unbewohnt, denn die Grundstücke und Häuser werden zwar verkauft, doch kaum bewohnt, weil man in China der Meinung ist, dass der Wert einer vormals bewohnten Immobilie sinkt.

Leider wirklich wahr: «Thames Town» in Songjiang. Bild: Huai-Chun Hsu über Wikimedia Commons

Die künstlichen Städte beschäftigten auch Architekt und Comic-Autor Matthias Gnehm, der Ende letzten Jahres im Verlag Hochparterre seinen Comic «Die kopierte Stadt» herausbrachte. Wir haben damals geholfen, für das Projekt Geld zu sammeln. Gnehm begann schon jung als Comiczeichner, während seines Architekturstudiums erschien sein erster Comic «Paul Corks Geschmack». In seinem aktuellen Buch entwickelt er mit feiner Pastellkreide seine Heimatstadt Zürich neu und kopiert sie in eine fremde Welt. Wieso Zürich? «Zürich ist ‹meine› Stadt, ich kenne sie quasi in- und auswendig,» erklärt Gnehm. «Das ist wichtig, um der Geschichte einen glaubhaften Rahmen zu geben und realitätsnah darstellen zu können, wo sich der Protagonist befindet.»

Die Geschichte handelt von Architekt Leo Lander, der einen Studienfreund in China besucht. Dieser entpuppt sich als kunstsammelnder Immobilientycoon, der in China mit allerlei Betrügereien Geschäfte macht und eine Retortenstadt, eine Zürich-Kopie, baut. Das Buch liest sich flott dahin; die Machenschaften der einen Seite und das Hinzukommen des unbedarften Leo Lander, der in die Intrigen gerät und sich zwischen den Welten verliert und dabei auch seine Familie, sind die Zutaten. Nach dem ständigen Wechsel zwischen Zürich und «Zürich» läuft Leo zum Schluss des Buches durch eine Geisterstadt – und auch als Leserin weiss man jetzt nicht mehr recht, was Original und Kopie ist, und ob Leo im verlassenen Original-Zürich steht, oder ob die Kopie vergeistert ist.

Ein Architekt auf Abwegen.
Willkommen in Neu-Zürich!

Die Geschichte über die Retortenstadt ist sehr gelungen, und es freut, dass die Echtheit der Kulisse sehr gut dargestellt wird: Neben dem Grossmünster gibt es eben keine Limmat, sondern einen tiefen, betongefügten Kanal, in den das Wasser erst Einzug halten wird. Ohne Seeschlamm und Pfahlbauten.
 
Betrachtet man gut funktionierende Städte genau, ist die Idee, diese Städte zu kopieren, vielleicht nicht nur verrückt. Aber ein solches Vorhaben benötigt Zeit, und die Macher bräuchten viel mehr Gespür für die entsprechende soziale Infrastruktur, mit der die Stadt wächst. Im vergleichsweise Kleinen, ja, sehr Kleinen, gibt es das Problem der fehlenden Struktur auch in jeder sich entwickelnden Stadt. Als Zürich-Nord in wenigen Jahren als neues Wohngebiet quasi aus dem Boden gestampft wurde, kam auch erst nach langer Zeit richtiges Leben ins Quartier; im Westen Zürichs werden auch noch viele Jahre vergehen, bis sich die Stadt hier «richtig» anfühlt. Das Entwickeln und Werden von Quartieren ist in einem solch kleinen Massstab möglich, und das auch ohne Triumphbogen. Die Geisterstädte in China haben hingegen grosse Chancen, als riesige Bauruinen zu enden – der kleine Eiffelturm rostet solange vor sich hin.



DIE KOPIERTE STADT
Zeichnungen und Geschichte: Matthias Gnehm
Gestaltung: Barbara Schrag
64 Seiten, farbig, mehr als 300 handgezeichnete Pastellkreide-Bilder
Hardcover
ISBN: 978-3-909928-26-2
CHF 39.–
Edition Hochparterre

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