Naturerlebnisse zwischen Faszination und Beherrschung
Inge Beckel
12. Dezember 2013
Sonnenschirm über Sevillas zentralen Gassen und Plätzen, von J. Mayer H., 2011 (Bild: Fernando Alda)
An der wilden Natur teilhaben; sich als Teil ihrer Freiheit, ja Ungestümtheit fühlen. Am städtischen Getümmel teilhaben. Das machen Aussichtstürme möglich. Auf dem Land. Und in der Stadt. Noch bis Anfang Februar des kommenden Jahres wird in Basel im Schweizerischen Architekturmuseum S AM die Ausstellung «Luginsland. Architektur mit Aussicht» gezeigt.
Seit der Renaissance gibt es den Typus des Aussichtsturms, dieses – so wird er zuweilen gesehen – «sinnlosen» oder jedenfalls zwecklosen Architekturstückchens. Richtig viel Aussichttürme in unzähligen formalen Varianten wurden im 19. Jahrhundert gebaut, man denke etwa an Gustave Eiffels Beitrag an der Pariser Weltausstellung 1889, der heute wohl das Wahrzeichen von Frankreichs Metropole schlechthin darstellt. Die Tour Eiffel zeigt, dass Aussichtstürme in der Stadt sowie auf dem Land stehen können. In städtischem Kontext sind Aussichtstürme oft Teil eines Vergnügungsparks und damit in strengem Sinne keine eigentlichen Türme, wie das Beispiel der begehbaren «Schlaufe» in London zeigt, die anlässlich der Olympischen Sommerspiele 2012 erstellt wurde. Als innerstädtisches Gebilde ist auch der ganze Plätze und Gassen überspannende Sonnenschirm in Sevilla zu bezeichnen. Dieser hat nun aber einen Zweck, als er neben der Aussicht, die er jenen bietet, die über respektive auf ihm gehen, denen unten auf dem Stadtboden Schatten spendet.
Orbit, Olympiapark in London 2012, von Anish Kapoor Studio und Cecil Balmond (Bild: Arcelor Mittal)
Aus- respektive Aufstieg aus dem Alltag
Dennoch steht wohl die Mehrheit dieser Türme, die von erhobenem Posten den Blick auf das sie umgebende Umland öffnen, in naturnahen Gebieten und eben nicht in innerstädtischen Geflechten. Man denke etwa an den in waldiger Gegend stehenden Aussichtsturm Siblinger Randenturm: 1882 in Stahlfachwerkbauweise errichtet, steht er auf dem so genannten Randen im Kanton Schaffhausen an der Grenze zu Baden-Würtemberg (mehr hier). Jüngere Beispiele von Schweizer Architekten, die in der Basler Ausstellung denn auch gezeigt werden, sind der Vogelbeobachtungsturm von Gion A. Caminada im Urner Reussdelta, das mit Aushubmaterial aus der NEAT aufgeschüttet und parziell zu einem Freizeit- und Erholungspark ausgebaut wurde. Oder Christ & Gantenbein oder HHF Architekten aus Basel, die je einen Beitrag als Rast- und Aussichtsposten auf einer Pilgerroute im mexikanischen Bundesstaat Jalisco beisteuerten (mehr hier). All diese Orte ermöglichen Erfahrungen jenseits eines grossstädtischen Alltags in dichter Bebauung und gehören seit jeher zu wie auch immer gearteten touristischen Infrastrukturen.
Vogelbeobachtungs- und Aussichtsturm im Reussdelta, von Gion A. Caminada, 2012 (Bild: Lucia Degonda)
Lookout Point von HHF Architekten auf einer Pilgerroute in Jalisco, Mexiko, 2010 (Bild: Iwan Baan)
Durch die Natur führen
In Norwegen aber werden Aussichtsarchitekturen seit einigen Jahren dahingehend erweitert, dass die Reisenden und Wanderer nicht nur in die Höhe gelotst werden, um die Gegend von oben zu bestaunen, sondern sie werden recht eigentlich durch die Natur mit ihren Schön- und Besonderheiten geführt (vgl. Der Weg ist das Ziel, in: eMagazin 43/2008). Dabei muss ein Tourist den Weg zu einem Aussichtspunkt nicht länger suchen, vielmehr wird er sinngemäss bei der Hand genommen und auf möglichst sicheren Pfaden dorthin gebracht. Dies hat auch den Vorteil, dass orstunkundige Touristen nicht in Gebiete trampeln, wo man sie nicht haben will … Seien dies empfindliche Pflanzen, nistende Tiere oder sonst sensible respektive gefährliche Orte. Andererseits können Menschen derart schlicht nicht verloren gehen, oder fast nicht. Der im letzten Sommer eröffnete Flimser Wasserweg, der Anfang Monat einer der durch den SIA vergebenen Umsicht-Preise erhalten hat, kann als hiesiges Beispiel dieser Art von geführten, wohl dem sanften Tourismus zugehörenden Routen genannt werden.
Sohlbergplassen-Aussichtspunkt, Stor-Elvdal, Norwegen, von C.-V. Hølmebakk AS Arkitektkontor, 2005 (Bild: C.-V. Hølmebakk)
Trutg dil Flem, Flimser Wasserweg von Jürg Conzett, 2013 (Screenshots: sia.ch)
Trutg dil Flem, Flimser Wasserweg von Jürg Conzett, 2013 (Screenshots: sia.ch)
Ambivalentes Verhältnis
Nun weisen derlei Naturerlebnisse zweierlei Seiten auf. Einmal geht es um den Blick in die Natur, ob aus der Ferne vom Turm oder von nahe am Boden. Natur fasziniert, wir wollen sie sehen, ihr nahe sein. Sie riechen, berühren. Gleichzeitig flösst sie uns Respekt ein, macht zuweilen Angst. Denn sie birgt Gefahren. Wir müssen uns also schützen. Oder sie bezwingen, wie es Bergsteiger tun. Auch Türme stellen schliesslich ein Symbol der Beherrschung dar, hier der Beherrschung oder der Kontrolle über die Natur. Andererseits erfreuen sich Zeitschriften übers «Land» grösster Beliebtheit – auch wenn das darin dargestellte Landleben oft realitätsfremd, ja kitschig ist … Es ist ein eigenartiges Verhältnis, das wir zur Natur haben. Ein Verhältnis zwischen Sehnsucht oder Faszination einerseits und Beherrschung – bis zu Ausbeutung – andererseits. Vielleicht sollten wir es überdenken.