Mit der Nachbarschaft wachsen
Nina Brodowski
26. April 2011
An der Universität der Nachbarschaften werfen die Studierenden einen Blick ins richtige Leben. (Bild: UdN/ HCU Hamburg)
An der HCU in Hamburg existiert seit 2008 eine Universität der Nachbarschaften. Hier bekommen die Studierenden eine komplexe Praxiserfahrung, die an deutschen Hochschulen zumindest für Planer und Architekten einzigartig sein dürfte. Die Grenzen zwischen denen, die lehren und denen die lernen, zwischen denen, die planen und den anderen werden verwischt. Damit nicht genug: Gezielt wird auch das Selbstverständnis der eigenen Disziplin reflektiert und hinterfragt. Den Teilnehmern macht das Spass. Nina Brodowski stellt die Universität der Nachbarschaften vor.
Unter dem Titel «Made in … lokale Praktiken urbaner Produktion» widmeten sich im März 2011 rund dreissig Studierende der Frage, welchen Stellenwert lokale Lebens- und Arbeitsformen in der Stadtgestaltung einnehmen – und wie sich eine entsprechende Re-Lokalisierung auf das Selbstverständnis der planenden und bauenden Disziplin auswirken würde. Aufgerufen zu diesem Workshop hatte ein Team von Masterstudierenden des Studiengangs Urban Design der Hafencity Universität Hamburg – es kamen «young professionals» aus der Schweiz, Spanien, Italien und Frankreich. Über eine Woche arbeitete die Gruppe mit dem konkreten Ort Wilhelmsburg – einem lange Zeit vernachlässigten Hamburger Stadtteil im Süden der Stadt. Die Teilnehmenden erkundeten das soziokulturelle Umfeld, nahmen Kontakt zu lokalen Initiativen wie dem Tauschring Wilhelmsburg auf, trafen auf alternative Produktionskollektive wie «Premium Cola» und entwickelten auf dieser Grundlage Interventionen und Ansätze für Wilhelmsburg, die auf die Stärkung der vorhandenen Ressourcen abzielten.
Zusammengefunden haben sich die Teilnehmenden in der Universität der Nachbarschaften – einem Kooperationsprojekt der HafenCity Universität Hamburg (HCU), der Internationalen Bauausstellung Hamburg (IBA) und der Internationalen Kulturfabrik Kampnagel. Die UdN hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein ehemaliges Gesundheitsamt im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg über den Zeitraum von fünf Jahren (2008-13) kontinuierlich umzubauen und zu einem Ort der Begegnung zu machen. Dabei arbeiten Studierende mit Menschen aus der Nachbarschaft zusammen. Bereits in der Umbauphase wird das Gebäude für Veranstaltungen und Lehrangebote genutzt. In diesen Veranstaltungen geht es darum, gemeinsam Funktion und Bedeutung des Entstehenden zu entwickeln.
Gebaut wird auch. Beim Umbau des ehemaligen Gesundheitsamts absolvieren die Studierenden ihr Baustellenpraktikum. (Bild: UdN/ HCU Hamburg)
Das Vorgehen ist repräsentativ für den Masterstudiengang Urban Design der HCU. Die UdN geht von den baulichen, sozialen und kulturellen Ressourcen aus und betont den kreativen Prozess der Formfindung: Das Erlebnis, wie ein Ort durch die Bespielung, diskursive Verhandlung, räumliche Veränderung und gemeinsame Nutzung eine (neue) Bedeutung für die Stadt und Umgebung erhält, steht im Mittelpunkt dieses Lehr- und Forschungsansatzes. Die Konfrontation und der Austausch von professionellen Planern mit lokalen Akteuren ist dabei zentraler Baustein. Dementsprechend sind die Studierenden und Lehrenden der HafenCity Universität in diesen Prozess selbst intensiv eingebunden: Sie begreifen sich nicht als Experten, die von aussen Programme, Funktionen und Formen an den Ort herantragen, sondern klinken sich in den Ort und sein Umfeld ein. In enger Verknüpfung mit den lokalen Initiativen und den verschiedenen kulturellen Gemeinschaften werden so die Gestaltungseingriffe und Programme von innen heraus entwickelt.
Für diesen Prozess entwickelt der Masterstudiengang Urban Design neue Lehrformate. In den Umbau beispielsweise sind Studierende der Fachrichtungen Stadtplanung, Architektur und Landschaftsarchitektur direkt involviert: In Lehrveranstaltungen wie der UdN-Bauhütte werden Aufmassarbeiten gemacht, Materialrecherche betrieben und eine Bauzeitenplanung erstellt. Das gehört genauso dazu wie die konkrete Bautätigkeit am Gebäude. Gefördert werden die Umbauten von der Max Hoffmann GmbH & Co. KG – und dabei können Studierende der Architektur auch ihr Baustellenpraktikum absolvieren. Sie werden dazu von der Firma Max Hoffmann auf der Baustelle der UdN beschäftigt.
Ein Raum, fünf Kulturen, zehn Darsteller, tausend Geschichten: Das UdN-Projekt «In My Room» ist die erst Soap Wilhelmsburgs. Es spielen Jugendliche aus Wilhelmsburg. (Bilder: Alexandra Heneka)
Der Umbau wird dabei nicht vorab auf dem Reissbrett entworfen. Geleitet durch die Frage, welcher Eingriffe es an diesem Ort, in diesem soziokulturellen Umfeld und in diesem speziellen Hybrid von Universität und Nachbarschaft bedarf, um einen Ort der Begegnung zu schaffen, wird die Veränderung des Gebäudes geplant und vorgenommen. So wurde aus den Erfahrungen der ersten Semester und dem ersten Sommerfest deutlich, wie wichtig informelle Tätigkeiten und Räume in diesem sehr stark durch kulturelle Unterschiede geprägten Umfeld sind. Die Hemmschwellen der sozialen Interaktion zwischen den verschiedenen Communities sind hoch und die Sprachbarrieren lassen eine Interaktion oft umständlich oder unnötig erscheinen, weil innerkulturelle Bezugssysteme und Netzwerke bestehen. Das erste Sommerfest hatte hingegen gezeigt, wie schnell über die «Kulturküche» nicht nur ein interkultureller Austausch, sondern auch ein informeller Ort der sozialen Interaktion entstand, der Interesse und Neugier am gemeinsamen Handeln geweckt hat. Ein Ergebnis dieser Erfahrungen war ein neues Foyer mit einer zentralen Küche. Dieser Küchensalon ist nun Herzstück der UdN und steht programmatisch für die Art der kulturellen Formate, die hier angeboten werden. Sie setzen auf Begegnungs- und Austauschformen, die dem Alltagsleben entspringen und die sich auf die Erfahrungswelt der Teilnehmenden beziehen.
Das Wort Nachbarschaft wird in der UdN programmatisch verwendet. Es wird weder als nostalgische Verklärung von dörflicher Gemeinschaft noch als Governance-Prinzip zur «Stabilisierung sozialer Brennpunkte» begriffen – und Nachbarschaft wird auch nicht als bestehende, monolithische Einheit verstanden. Vielmehr sehen die Beteiligten der UdN sie als etwas, das aus einem heterogenen Konglomerat über Erfahrung, Handeln und Austausch und über die Erarbeitung gemeinsamer Interessen, Fähig- und Tätigkeiten wächst und entsteht. In den Kultur- und Lehrveranstaltungen der UdN geht es dementsprechend nicht darum, das Quartier von aussen zu betrachten, um dann «geeignete Freizeitangebote» bereitzustellen. Vielmehr wird die Entwicklung der Nachbarschaft selbst zum Thema gemacht. Ein Beispiel für ein derartiges Lehr- und Kulturangebot ist das Wilhelmsburg Orchestra, in welchem mitzumachen jeder eingeladen ist. Zusammengesetzt aus Studierenden der HCU und Einwohnern Wilhelmsburgs, zielt es auf die Bildung einer neuen und spezifischen, musikalischen Gemeinschaft. Die Lehrenden und Studierenden stehen dabei nicht ausserhalb des Bezugsrahmens, sondern begreifen sich selbst als Teil dieses emergierenden Kollektivs. Mit Erfolg: Seit 2009 wächst das musikalische Aufgebot und nutzt zum Proben die Räumlichkeiten der UdN. Durch die unterschiedlichen Lehr- und Kulturformate dieser Art entsteht so ein Ort, der – obwohl ursprünglich von aussen an den Kontext herangetragen – nach und nach mit Leben gefüllt wird.
Mit dem Wilhelmsburg Orchestra ist eine neue Gemeinschaft aus Studierenden und Nachbarn entstanden. (Bild: UdN/ HCU Hamburg)
Die UdN als Forschungs- und Lernort verfolgt einen ressourcenschonenden Umgang mit der Architektur und ihrer Umwelt: Die Rest- und Neunutzung des Gebäudes setzt auf die vorhandenen Ressourcen. Die Forschungs- und Lehrprojekte ermöglichen Studierenden nicht nur unterschiedlichste Praxiserfahrung unter realen Bedingungen. Sie erleben auch am eigenen Leib, wie die räumliche Gestaltung mit realen Lebenswirklichkeiten zusammenkommt und dass Raumgestaltung und -programmierung Einfluss auf die soziale Dimension des Ortes haben. Die Relevanz der eigenen Disziplin wird hier erfahrbar gemacht. Mit diesem Konzept der kollektiven Selbstbildung vermittelt die UdN zwischen den Traditionen der Anwaltsplanung, Ansätzen des open source sowie Christopher Alexanders «pattern language». Sie arbeitet selbst an der praktischen Gestaltung und dem Selbstverständnis der planenden und bauenden Disziplinen. Und es macht auch noch Spass.
Der Workshop «Made in … lokale Praktiken urbaner Produktion» hat diese Ansätze aufgegriffen und weitergeführt. In dieser Woche wurde gemeinsam diskutiert, gekocht, gegessen, entworfen, verworfen, übernachtet und zum Schluss die Erkenntnisse allen Interessierten zugänglich gemacht. Das Wilhelmsburg Orchestra hat zur Vernissage gespielt und es wurde getanzt, getrunken und gelacht. Es scheint fast so, als ob die Re-Lokalisierung der städtebaulichen Arbeitsweise ein sehr lustvolles und nachhaltiges Bauen an der gemeinsamen Stadt verspricht.