Militarisierung einer Stadt

Oliver Pohlisch
19. Juli 2012
Bild: lifeinthemix.info www.london2012.com
London vor den Olympischen Sommerspielen 2012. Alle Bilder: Oliver Pohlisch

«Island Security»
Der Olympiapark ist von einem elf Kilometer langen Zaun umgeben, der stellenweise mit 5000 Volt geladen ist. Jeweils im Abstand von zehn Metern sind Masten mit Flutlichtern und Überwachungskameras installiert. Checkpoints, zugestellt durch eine Strassenmöblierung zur Abwehr «feindlicher Fahrzeuge» befinden sich an den wenigen Einfahrten, an denen Besucher durch Pass- und Taschenkontrollen geschleust werden.

«Island Security» nennt sich im Jargon der Fachleute die vollständige Absperrung eines ganzen Stadtgebiets, damit es vor ungewollten Störungen geschützt ist. In London hat das Konzept durchaus Tradition: Um den städtischen Bankendistrikt, die City, vor Terroranschlägen der IRA abzusichern, umgab man ihn in den 1990er-Jahren mit einem «ring of steel». An den Eingängen des Viertels wurden die Strassen durch Verkehrsinseln verengt, auf denen die Polizei in Postenhäuschen den Verkehr überwachte. Mit der Zeit wurden diese um Betonbarrieren und um ein dichtes Netz an Videokameras ergänzt oder ersetzt.

Doch so demonstrativ und umfassend wie das Olympiagelände ist bisher noch kein städtisches Areal in Grossbritannien abgeriegelt worden. Schon als sich die Planer für das Ostlondoner Lower Lea Valley als Standort der Wettkampfstätten und Athletenunterkünfte entschieden, geschah dies aufgrund seiner insularen Topographie. Vom Rest der Stadt ist es durch Bahnlinien, Wasserläufe und Schnellstrassen getrennt. Den olympischen Bauten mussten Industriegewerbe, eine Genossenschaftssiedlung, Schrebergärten und geschützte Naturreservate weichen.

Doch erstreckt sich der Sicherheitskordon noch über die Umzäunung hinaus. Die Rede ist von «Pufferzonen» in einem Radius von einer Meile rund um das Olympiagelände: Hier werden Hubschrauber mit Scharfschützen kreisen, Autos mit Überwachungskameras Streife fahren, bei Bedarf Fahrzeugchecks oder gleich vollständige Verkehrssperrungen vorgenommen. Beamte können jederzeit Ansammlungen ab zwei Personen auflösen und jenen, die nicht innerhalb der Zone wohnen, einen Platzverweis für 24 Stunden aussprechen. Wer sich dem widersetzt, muss mit dreimonatigem Arrest oder 5000 Pfund Geldbusse rechnen. Für Unter-16-jährige gilt in diesen Gebieten eine nächtliche Ausgangssperre. Zwischen 21 Uhr und 6 Uhr dürfen sie sich nur noch mit Begleitung von Erwachsenen auf der Strasse bewegen. Die zu erwartende Intensivierung polizeilicher Arbeit rechtfertigte den Bau einer komplett neuen Wache im Nordosten des Olympiageländes.

All diese Vorkehrungen mussten sogar schon als Grund für eine Verlegung des Marathonlaufs in den Londoner Westen herhalten. Sie würden die Strecke kurz vor einem Finale im Olympiastadion, wie es das IOC-Statut eigentlich vorsieht, für Zuschauer unzugänglich machen, hiess es. Vermutet wird allerdings eher, dass der Wunsch der Fernsehsender nach Einstellungen mit Buckingham Palast oder Big Ben im Hintergrund dazu geführt hat, dass die Strassen im weniger vorzeigbaren Osten aus dem Marathonkurs rausgefallen sind.

Bürgerprotest gegen die Boden-Luft-Raketen.

Klima der Angst
Die Olympischen Spiele in London lösen die grösste und teuerste Sicherheitsoperation in Grossbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Schätzungen gehen davon aus, dass sie Ausgaben von bis zu einer Milliarde Pfund verursacht. Die Gesamtkosten der Spiele belaufen sich nach offiziellen Angaben auf eine Summe von 9,3 Milliarden Pfund.

Dass das wichtigste Sportspektakel der Welt tatsächlich zur medial hell ausgeleuchteten Bühne mörderischer Militanz missbraucht werden kann, ist seit der tödlichen Geiselnahme israelischer Sportler durch palästinensische Terroristen im Olympischen Dorf der Münchner Sommerspiele 1972 gewiss. Und bei den Spielen in Atlanta 1996 legte ein christlicher Fundamentalist eine Bombe, durch die zwei Menschen starben. Aus Angst vor Wiederholung solcher Ereignisse ist das Mega-Event über die Jahrzehnte, von Austragungsort zu Austragungsort, immer stärker befestigt worden – erst recht nach den Anschlägen vom 11. September.

2009, ein Jahr vor den Winterspielen im kanadischen Vancouver, unterzeichneten über 40 Wissenschaftler aus fünf Ländern das so genannte «Vancouver Statement», in dem sie vor dem übermässigen Gebrauch von Sicherheitstechnologien während des Ereignisses warnten. Vergangene Olympische Spiele hätten zunehmend in einem Klima der Angst stattgefunden und ein Ausmass an Überwachung und Kontrolle mit sich gebracht, das demokratieschädlich sei, so die Autoren des Statements.

In diesem Jahr ist das Megaevent allerdings in der Hauptstadt einer Nation zu Gast, die gegen den Irak Krieg führte und noch immer Truppen in Afghanistan stationiert hat. Dass London deshalb als besonders neuralgischer Punkt auf der Weltkarte des Terrors gilt, ist nicht aus der Luft gegriffen: Am 7. Juli 2005 trübte ein Selbstmordanschlag islamistischer Extremisten auf das Nahverkehrssystem der Metropole mit über 50 Toten den Jubel über die Vergabe der Spiele an die Themse auf der IOC-Konferenz in Singapur nur einen Tag zuvor. Seitdem warnen Polizei und Geheimdienste ohne Unterlass, dass die Londoner Spiele 2012 erneut zur Zielscheibe terroristischer Attacken werden könnte.

Je näher der Termin der Eröffnungszeremonie rückt, desto häufiger werden Festnahmen so genannter Terrorverdächtiger gemeldet. Die britischen Anti-Terror-Gesetze erlauben Zugriffe schon in einem sehr frühen Stadium des Verdachts und eine Inhaftierung von bis zu 14 Tagen. Direkte Hinweise, die Festgenommenen hätten Angriffe auf die Olympischen Spiele geplant, gab es bisher allerdings keine.

Und noch etwas wollen die Sicherheitsbehörden ausschliessen: dass es just in der Zeit des Sportereignisses zu ähnlichen Szenarien kommt wie im vergangenen August, als sich in London und anderen britischen Städten Tausende von zumeist Jugendlichen für vier Tage Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, als Plünderungen und Brandstiftungen in den Einkaufsstrassen live über die Bildschirme flimmerten.

Gerade aber drakonische Polizeimassnahmen, so das Newham Monitoring Project, hätten die August-Unruhen ausgelöst. Ansässig im Bezirk Newham, der sich gleich östlich an das Olympiagelände anschliesst, fürchtet die Bürgerrechtsgruppe, dass von den geplanten Personen- und Fahrzeugkontrollen sowie der Verhängung von Ausgangssprerren und Versammlungsverboten vor allem die überdurchschnittlich junge Bevölkerung des Stadtteils betroffen sein wird. Zudem sind 24,3 Prozent der Bürger Newhams Muslime. Auch sie könnten sich durch die Sicherheitsoperationen, insbesondere da die Olympischen Spiele mit dem Ramadan zusammenfallen, in ihren Aktivitäten beeinträchtigt fühlen. Die Bürgerrechtler warnen vor Spannungen und Unmut in dem Bezirk.

Dieses Zelt gehört nicht zu einem friedlichen Sommerlager der Pfadfinder.

Permanenter Ausnahmezustand
Tatsächliche oder vermeintliche Bedrohungsszenarien lassen Debatten über die zu beobachtenden Sicherheitsmassnahmen kaum zu. Die Autorin und Journalistin Anna Minton beklagt, dass, wer nach der Notwendigkeit bestimmter Massnahmen frage, sich schnell als unpatriotisch abgestempelt fühlen könne – gerade so, als ob diese Frage Terroristen Hilfestellung leisten würde.

Das generelle Schweigen zu diesem Thema sei aber auch der Tatsache geschuldet, so Minton, dass das öffentliche Leben Grossbritanniens längst von allen möglichen Sicherheitstechniken durchdrungen ist. Die Bevölkerung habe sich daran gewöhnt, dass selbst Kliniken und Schulen umzäunt und mit Kameras überwacht werden, dass der Zugang zu ihnen nur per Fernsteuerung möglich ist.

Olympia 2012 stellt so etwas wie den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung dar. Kritische Stimmen sprechen gar von einer Militarisierung der Stadt, die durch die Spiele ermöglicht werde und sich fortzusetzen drohe, nachdem die AthletInnen schon wieder abgereist sind. Nach Ansicht des Soziologen Isaac Marrero-Guillamón leisten Mega-Events wie die Londoner Sommerspiele einem unerklärten, permanenten Ausnahmezustand Vorschub, der auch während Friedenszeiten zunehmend als Regierungstechnik in Demokratien zur Anwendung kommt.

Dieser Zustand manifestiert sich nicht nur baulich, sondern auch in schnell durch die Legislative gepeitschten, strafverschärfenden Gesetzesänderungen. Exemplarisch steht hierfür der London Olympics and Paraolympic Games Act (LOPGA), der 2006 vom britischen Parlament verabschiedet wurde. Im Interesse der offiziellen Sponsoren von Londons Sommerspielen belegt er den Verkauf unautorisierter Olympia-Souvenirs und die unerlaubte Werbung mit olympischen Symbolen oder mit Wörtern wie «Olympia», «Gold», «2012» oder gar «Sommer» im Umfeld der Wettkampfstätten mit drastischen Geldbussen. Die Polizei darf sich Zutritt zu privaten Grundstücken und Gebäuden verschaffen, sollte sie die berechtigte Annahme haben, dass dort solche Handlungen stattfinden. Unter Einsatz vertretbarer Mittel kann sie rechtswidrige Artikel entfernen und zerstören. Die Beweislast liegt beim Beschuldigten.

Weitete der LOPGA zunächst den Tatbestand der unerlaubten Werbung auch auf nicht-kommerzielle Aktivitäten aus, wurde dies durch Gesetzeszusätze wieder abgeschwächt. Zu stark wog der Vorwurf, dass damit auch politischen Demonstrationen oder religiösen Zeremonien auf Londons Strassen eine Kriminalisierung droht. Doch in Reaktion auf das schon längst geräumte Occupy-Camp vor der St. Paul's Kathedrale wurde wiederum ein Verbot von lagerähnlichen Protestformen in Nachbarschaft olympischer Anlagen verhängt. Paragraf 61 der Olympia-Charter des IOC untersagt schliesslich jegliche öffentliche, politische Meinungsäusserung auf dem Olympiagelände.

Blamage für den Security-Konzern
Wie viele Menschen genau mit olympischen Sicherheitsbelangen in London befasst sein werden, so der Geograph Stephen Graham in der Tageszeitung The Guardian, sei – aus «Sicherheitsgründen» - kaum zu ermitteln. Vermutet wird, dass es bis zu 49 000 sein könnten. Allein aus den Vereinigten Staaten sollen rund 1000 bewaffnete Diplomaten und FBI-Agenten zum Schutz der US-SportlerInnen anreisen.

Neben 12 500 Polizisten sind auch 17 000 Soldaten in London unterwegs, mehr als die britische Armee derzeit in Afghanistan stationiert hat. Davon sollen 5000 auf den Strassen der Metropole Präsenz zeigen, und 7500 sollen Wache rund ums Olympiastadion und andere Wettkampfstätten schieben.

Die restlichen 3500 Militärangehörigen wurden quasi in letzter Minute aus ihrem Urlaub vom Afghanistan-Einsatz abkommandiert. Eigentlich sollte der weltweit grösste Sicherheitskonzern G4S insgesamt 10 000 Wachschützer für das Mega-Event bereitstellen. So sah es der 283 Millionen Pfund schwere Kontrakt mit dem Londoner Olympia-Organisationskommittee vor. Doch vergangene Woche teilte G4S überraschend mit, dass es den Vertrag nicht erfüllen könne und nur eine Personalstärke von 6 500 Personen zur Verfügung hätte. Viele der vom Konzern eigens für die Spiele geschulten Kräfte hätten sich schlichtweg nicht mehr zur Arbeit gemeldet. Sie sollten vor den Bildschirmen der Überwachungssysteme sitzen, Ordnerfunktionen, Eingangskontrollen und Gepäckdurchsuchungen übernehmen. Jetzt tun auch das die Soldatinnen und Soldaten.

Noch vor kurzem hatte eine Beilage der Financial Times einen Regierungsvertreter zitiert, der das Sportereignis als enorme Möglichkeit bezeichnet, der Welt zu zeigen, was der Privatsektor in Sachen Sicherheit zu leisten im Stande ist. Bald würde nicht nur ein UK-Gütesiegel am Produkt kleben, sondern ein olympisches obendrein. Und die Tageszeitung Daily Telegraph jubelte sogar, dass die olympische Sicherheitsoperation ein «Schlüssel für die Wiederaufstehung von UK Plc (Grossbritannien GmbH)» sei.

Umso größer die jetzige Blamage, zumindest für G4S. Das Unternehmen kann wohl seine Hoffnung begraben, Verträge für die Sicherheitsmassnahmen bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien und die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro zu ergattern. Vorstandschef Nick Buckles hat schon signalisiert, auf rund 50 Millionen Pfund Olympia-Einnahmen verzichten zu wollen. Am Dienstag wurde er vor den Innenausschuss im Unterhaus geladen, wo er zugeben musste, dass die von G4s betriebene Personalpolitik für die Spiele zum heillosen Chaos geraten ist. Mehrere Ausschussmitglieder legten ihm den Rücktritt von seinem Posten nahe.

In Grossbritannien, wo G4S mit dem Betrieb von Gefängnissen, Asylunterkünften und selbst einer Polizeistation ungefähr 10 Prozent seines Gesamtumsatzes erwirtschaftet, flammt nun erneut die Debatte darüber auf, ob das von der liberal-konservativen Regierungskoalition in Gang gesetzte massive Outsourcing von bisher öffentlichen Diensten an private Anbieter diese wirklich effektiver macht und Ausgaben sparen hilft. Von Seiten der Privatisierungsbefürworter wird jedoch höchstens kritisiert, dass sich die Londoner Olympia-Organisatoren zu sehr an eine Sicherheitsfirma gebunden hätten. Längst könnten andere Anbieter wie Serco und Capita in ernsthafte Konkurrenz zu G4S treten.

Drohnen und Raketen
Ohnehin wird sich in Sachen Sicherheit immer weniger auf die mit Restrisiken behaftete, menschliche Arbeitskraft verlassen. Im und um das Olympiagelände wird in den nächsten Tagen demonstriert, zu welchen Rationalisierungsschüben die Branche fähig ist: Zur Anwendung kommt die jeweils jüngste Generation von Körperscannern, biometrischen Identitätskarten, Kontrollsystemen mit Gesichts- und Nummernschilderkennung. Eine flächendeckende Überwachung soll aber insbesondere durch Drohnen erfolgen. In Irak und Afghanistan auch zum Töten feindlicher Aufständischer eingesetzt, wurden sie erstmals 2005 in Los Angeles polizeilich erprobt. Die Sicherheitsbehörden im Vereinigten Königreich haben schon punktuell Erfahrungen mit den unbemannten Fluggeräten sammeln können. Experten sehen die Londoner Spiele nun als geeigneten Katalysator für einen dauerhaften Einsatz von Drohnen in britischen Städten.

Welch seltsame Blüten die Fixierung auf Sicherheit schliesslich zu treiben vermag, beweist die Stationierung von Boden-Luft-Raketen vom Typ Rapier an sechs Standorten in Nachbarschaft des Olympiageländes, darunter auch auf den Dächern zweier Wohngebäude. Als Abschreckung gegen Terrorangriffe aus der Luft gedacht, wurde diese Massnahme den betroffenen Bewohnern vom Verteidigungsministerium lediglich per Wurfsendung mitgeteilt. Raketen mitten in dichtbesiedelten Stadtvierteln? Das hat dann doch zu Protest unter der Bevölkerung geführt. Nicht wenige Ostlondoner befürchten, die Waffenstellungen könnten selbst ins Visier von Terroristen geraten. Auch würde ein tatsächlicher Abschuss von Raketen Tod und Zerstörung garantieren.

Das Ministerium hat öffentliche Konsultationen in dieser Sache jedoch klar abgelehnt. Und der High Court bestätigte diese Haltung vergangene Woche, in dem er die Klage der Bewohner eines der Wohnhäuser gegen die Stationierung zurückwies. Beruhigend soll die Versicherung des Ministeriums wirken, dass die Raketen nur dann gezündet würden, sollten die auf der Luftbasis Norholt in Westlondon startbereit stehenden Eurofighter es nicht schon vorher geschafft haben, von Terroristen gekaperte Flugzeuge vom Himmel zu holen. Allerdings wird dem Waffensystem selbst von der Jane's International Defence Review, dem weltweit führenden Militärfachblatt, ein miserable Leistung bei schlechtem Wetter bescheinigt – und das war in den vergangenen Wochen in London leider der Normalfall.

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