Mies und mehr

Inge Beckel
5. Oktober 2016
Der Pavillon von Ludwig Mies van der Rohe, gebaut als deutscher Pavillon anlässlich der Weltausstellung 1929 in Barcelona, wurde danach wieder abgerissen – und erst 1986, also vor 30 Jahren rekonstruiert. ©Fundació Mies van der Rohe. Photo: Rafa Vargas

Im Gegensatz zum Mies Award, wo ein realisierter Bau ausgezeichnet wird, werden im Rahmen des Young Talent Architecture Award (YTAA) nunmehr junge Berufsleute geehrt. Genauer Studierende, die an der Schwelle zum Berufsleben – mit all seinen juristischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ansprüchen – stehen. Aber noch sind diese jungen Menschen diesbezüglich unerfahren, in gewissem Sinne naiv, ja frei.

Ganz wichtig für die Schweiz ist, dass «wir» beim YTAA zugelassen sind; im Gegensatz zum Mies Award, der ausschliesslich innerhalb der Europäischen Union ausgeschrieben wird. Konkret heisst dies, Schweizer Hochschulen sind zugelassen. Denn das Prozedere ist so geregelt, dass es die Hochschulen sind, die unter den besten Diplomarbeiten eines Jahrgangs aus der eigenen Schule jene auswählen, die sie bei der Mies Foundation in Barcelona einreichen wollen. Die Foundation ist sowohl für die Durchführung des Mies Award sowie des YTAA verantwortlich. Hinsichtlich letzterem mit Unterstützung von Creative Europe/European Commission und World-architects als Gründungspartner.

Eine Suprastruktur für Ahmedabad in Indien, worin sowohl Baumwolle verarbeitet als auch direkt von den Produzentinnen vertrieben werden soll. Bild: miesbcn.com

Diplomarbeiten aus 29 Ländern
Da der YTAA-Preis, wie erwähnt, 2016 erstmals ausgeschrieben und vergeben wird, mussten viele der Architekturhochschulen europaweit zuerst davon überzeugt werden mitzumachen, sagt Anna Ramos im Gespräch. Ramos ist seit Juni diesen Jahres Direktorin der Mies Foundation. Schliesslich haben sich 106 Architekturfakultäten aus Europa registriert, verteilt über 29 Länder. Eingereicht wurden 211 Studierendenarbeiten. Aus der Schweiz haben sich die Berner Fachhochschule in Burgdorf, die Hochschule Luzern in Horw, die zhaw, Winterthur, und die ETH Zürich mit insgesamt 12 Projekten beteiligt.

Sie seien mit dem Ergebnis zufrieden, so die Verantwortlichen, schliesslich ist es die erste YTAA-Austragung. Auch inhaltlich lässt sich der Fundus zeigen; es finden sich viele spannende, hochstehende oder auch experimentelle Projekte. Wichtig ist, dass die Arbeiten anonym präsentiert werden. Entsprechend kennt die Jury weder die Namen der Studierenden noch weiss sie, aus welcher Hochschule eine Arbeit stammt. Als ersten Schritt hat sie eine Shortlist von 30 Arbeiten oder Nominierten zusammengestellt. Aus diesen wurden neun Finalisten erkoren, woraus schliesslich drei Sieger hervorgehen. Die Bekanntmachung von Finalisten und Siegern findet im Oktober statt, ihre Ehrung in Venedig Ende des Monats; zusammen mit einem Symposium im Rahmen der Biennale.

Entwurf für ein Theater für La Fura dels Baus, geplant im Hafengebiet von Barcelona. Bild: miesbcn.com

Reisend die Welt studieren
Anfang Oktober wurde die Shortlist der 30 Nominierten bekannt gegeben. Die Studenten und Studentinnen dieser Entwürfe stammen wohlgemerkt aus über 10 Ländern. Auf der Shortlist finden sich nun jedoch auch Arbeiten mit Projekten, die Fragestellungen und Situationen ausserhalb von Europa bearbeiten. Beispielsweise in den USA, in Brasilien, Japan, Indien oder auch an Orten in Afrika. Das jedoch ist für den YTAA keineswegs untypisch.

Vielmehr sind jene Beiträge erstaunlich zahlreich, die ein Thema in einem anderen Land als dem Herkunfts- oder Studienland behandeln. Die Entwürfe fussen dabei in der Regel wohl auf Untersuchungs- oder Quellenmaterial, das während eines Austauschsemesters gesammelt und als Skizzen, Notizen oder bereits als Entwurf mit nach Hause genommen wurde. Der Student, die Studentin war vom fremden Ort nachhaltig beeindruckt und hat die neuen, oft ungewohnten, in jedem Fall anregenden Impressionen letztendlich in die eigene Abschlussarbeit einfliessen lassen.

Studie für Wrocław, dem einstigen Breslau: Die Megastruktur ist statisch und gegeben, während der Ausbau mit den Bedürfnissen der Bewohner «wachsen» und sich verändern kann. Im Ansatz vergleichbar mit Projekten aus den 1960- und 1970er-Jahren. Bild: miesbcn.com

Aufwertungen, regenerations
Inhaltlich ist die Palette der bearbeiteten Themen breit. Sie reicht von einer Bibliothek in Finnlands Norden – Ort auch des gemeinschaftlichen Lebens – über Handwerks- und Gewerbezentren, kulturelle Einrichtungen über Wohnungsbauten bis hin zu touristischen Infrastrukturen. Gleichzeitig zeigt sich, dass sich ein Thema, sozusagen als Überthema, durch viele der Arbeiten zieht. Es ist jenes der Wiederbelebungen, Aufwertungen, englisch regenerations. Diese Wiederbelebungen sind räumlich, inhaltlich und landschaftlich zu verstehen. So zeigt eine auch ökonomisch ausgelegte Studie aus Havanna auf, wie sich über das Vermieten von Privatzimmern, Airbnb vergleichbar, Geld generieren lässt, das systemetisch in die Renovation der Häuser abseits des Zentrums gesteckt werden kann. Eine andere Arbeit setzt bei den Eigentumsverhältnissen an, mit dem Ziel, eine kleinteilige mittelalterliche Reihenhausstruktur in Frankreich derart zu verändern, dass sowohl die Häuser als auch die Aussenräume zeitgenössischen Bedürfnissen angepasst werden können, ohne die Siedlung als ganzes abreissen zu müssen.

Hinsichtlich landschaftlicher regenerations gehen mehrere Projekte den Folgen von Immobilienblasen nach, die Bauten oder solche, die nie fertig gestellt wurden, als Ruinen hinterlassen: Sei es, dass eine touristisch genutzte Küste aufgewertet oder dass eine unfertige Erschliessungs- und Strassenstruktur in einen Park überführt werden soll. Ein Projekt schlägt vor, leer stehende Bürohochhäuser über ein einfaches Boxen- und Möbelsystem zu einer temporären Bleibe für Flüchtlinge zu machen. Generell kommt das Thema Flüchtlinge oft vor. So bemüht sich ein Projekt um die klimatische und kulturelle Verbesserung von Flüchtlingszelten, ein anderes will Boote zu temporären Bleiben umfunktionieren, wieder ein anderes nimmt sich leer stehender Häuser an und transformiert diese. Der Blick auf diese Lösungsansätze lässt einen zuweilen jedoch ähnlich ratlos zurück wie bei Politikern. Zu kompliziert, zu aufwändig, an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Sonderlösungen. Wären nicht vielmehr integrative Lösungen gefragt?

Möglichkeiten, eine historische Bebauungsstruktur im französischen Villefranche-de-Rouergue für zeitgenössische Ansprüche fit zu machen. Bild: miesbcn.com

Formal, sozial, ökonomisch – jedenfalls «intersektional»
Im Deutschen gibt es den Begriff intersektional offiziell nicht. In humanistischen Disziplinen, etwa den Gender Studies, ist er im Englischen aber gut etabliert. Intersectional bedeutet, dass eine Sache oder ein Thema nicht allein über nur eine Disziplin angegangen werden kann. Bleibt man innerhalb nur einer Disziplin, lässt sich das Problem nicht lösen. Es braucht mindestens zwei oder drei Ansätze, es braucht unterschiedliche Perspektiven. So lässt sich just die Flüchtlingsproblematik nicht mit Bauen allein lösen. Obwohl die Unterbringung der Menschen nach Gebautem verlangt. Ebenso verweisen Immobilienblasen auf eine Thematik, wo mehrere Aspekte hineinspielen.

All diese Beispiele zeigen, dass Themen der Architektur und des Städtebaus je länger, desto weniger isoliert behandelt werden sollten. Sicherlich kann man einen rein innerarchitektonischen Diskurs führen. Gleichzeitig manövriert man sich damit weiter in eine Ecke des Besonderen, des Aussergewöhnlichen, vielleicht gar des Effekts. Während das «gemeine» Bauen, die alltäglichen Bedürfnisse der Menschen zusehends einem (nicht selten spekulativen) «Baumarkt» überlassen werden. Die zum YTAA eingereichten Arbeiten zeigen ein anderes Bewusstsein. Diese jungen Menschen suchen nicht isolierte, vermeintlich reine Lösungen. Vielmehr wollen sie an den Problemen der Gesellschaft teilnehmen und zu deren Lösung – oder jedenfalls Verbesserung – beitragen.

Siehe auch: Die Shortlist des YTAA.

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