Kulturgut Stilles Örtchen

Manuel Pestalozzi
18. Februar 2015
Minimale Diskretion für Designbewusste verspricht dieses Muster-WC im Sulabh International Museum of Toilets. Es fehlt der Wasserkübel zum Spülen. Alle Bilder: Manuel Pestalozzi.

Im Jahr 2014 gerieten Orte der Versäuberung wiederholt in die Schlagzeilen – auch in den Fachnachrichten für Architekturschaffende. Rem Koolhaas kuratierte an der Architekturbiennale in Venedig unter dem Sammelbegriff «Fundamentals» eine Ausstellung, die der Entwicklung des Klos gewidmet war. «Es gibt keine theoretische Architekturabhandlung, die in der Toilette ein vorrangiges Architekturelement erkennt, aber vielleicht ist sie das abschliessende», wurde der Meister zum Thema zitiert. Wenn das nicht ausreichende Legitimation ist, in diesem Magazin darüber zu berichten! Die Zeitschrift TEC21 widmete ihre Ausgabe Nr. 46 vom 14. November 2014 den «Alternativen zum WC» und richtete den Fokus auf die Dritte Welt, wo anscheinend auch im 21. Jahrhundert wohl gesinnte Zivilisationsmenschen den Afrikanern zeigen, wie’s geht.

Sauberkeit so weit das Auge reicht – wer denkt hier ans Thema Notdurft? Die Ausstellungs- und Forschungsbereiche des «Sulabh Sanitation Movement» sind am Rand des parkartigen Areals angeordnet.

Toiletten-Missionare gibt es auch in Indien, wo jüngst Meldungen über Vergewaltigungen von Frauen bei der Verrichtung im freien Feld für internationale Bestürzung sorgten. Allerdings sind es hier Einheimische, welche die Initiative ergreifen. Mitten in einem dicht bebauten Wohnquartier im Westen von New Delhi befindet sich das «Sulabh International Museum of Toilets». Wie die Koolhaas-Ausstellung wartet sie mit einer Sammlung von Schüsseln und Thronen auf. Aber sie bietet mehr; wenn man die Umschliessungsmauer der dicht von Häusern umringten Anlage passiert, wähnt man sich in einem urbanen Aschram. Es würde nicht erstaunen, wenn sich hier ein Guru und sein Gefolge der Meditation hingäben. Einfachste eingeschossige Zweckbauten umringen eine anmutig begrünte Parkanlage mit einer grossen Wiese. Daneben schwebt auf weiss gestrichenen Metallstützen ein filigranes Dach. Unter diesem erstreckt sich eine blitzblanke Bodenplatte, in die Gruben eingelassen sind. Sie verkörpern das Toilettenprinzip, das dem «Sulabh Sanitation Movement» seinen Namen und die Existenzgrundlage gab.

Unterschiedliche Prototypen sollen zum Bau einer passenden Toilette animieren. Das Prinzip der Zweischacht-Technologie bleibt immer dasselbe.

«Sulabh Shauchalaya» ist die umgangssprachliche Bezeichnung für die Zweischacht-Eingiess-Spül-Toilette. Ihr Prinzip ist einfach und lässt sich in einem simplen symmetrischen Grundriss darstellen: Hinter dem zentralen Ort der Verrichtung zieht sich ein Ypsilon aus offenen Rinnen durch den Boden, die in zwei identische, meist kreisrunde, ca. 1,5 Meter tiefe Schächte im Erdreich münden. Es handelt sich um ein WC-System, entsorgt wird mit dem Eingiessen von Wasser. Exkremente enden in einem der beiden Schächte, die permeabel sind und mit einem Geruchsverschluss versehen werden. Die Zweischachtidee nutzt den Faktor Zeit: Es wird damit gerechnet, dass es rund zwei Jahre dauert, bis ein Schacht gefüllt ist. In den weiteren zwei Jahren, in denen der zweite Schacht genutzt wird, verwandelt sich der Inhalt des ersten in soliden, geruchlosen, schadstofffreien Kompost. Das skeptische Bleichgesicht aus Europa runzelt die Stirn. Grundwasser? Monsunperiode? Doch der Laie erfährt, dass diese low cost-Technik in verschiedenen Klimazonen und auch in dicht besiedelten Stadtgebieten erfolgreich angewendet wird.

Dem Ypsilon hinter dem Ort der Verrichtung verdankt die Idee ihren Erfolg. Der Slogan «Zuerst zur Toilette, dann in den Tempel» wird Indiens aktuellem Premierminister Narendra Modi zugeschrieben.

Das «Sulabh Sanitation Movement», Betreiberin des Museums, ist eine Volksbewegung. Ihrem Gründer, Dr. Bindeshwar Pathak, wird auf dem Areal derart gehuldigt, dass der Vergleich mit einem Aschram und seinem Guru gar nicht mehr so abwegig erscheint. Ein Blick in Dr. Pathaks Biographie erinnert daran, dass das Stille Örtchen ein Kulturgut ist und die Herstellung eines konstanten hygienischen Standards eine gesellschaftliche Aufgabe, die man gemeinsam, organisiert und systematisch angehen muss.
 
Die Sulabh-Bewegung hat einen prononciert politischen Hintergrund. Der Gründer ist gelernter Soziologe. Er stammt aus dem armen Gliedstaat Bihar, entspringt aber der höchstrangigen Kaste der Brahmanen. Nach seiner Ausbildung befasste sich Dr. Pathak mit dem Schicksal der professionellen Entsorger von Exkrementen. Diese Aufgabe wird in der indischen Gesellschaft traditionellerweise an Mitglieder der niedrigsten Kasten, so genannte Unberührbare, und vorwiegend an Frauen delegiert. Die Tätigkeit gilt in der hinduistischen Religion als höchst unrein, jene, die sie verrichten müssen, sind gesellschaftlich stigmatisiert. Seit der Emanzipation Indiens vom Britischen Weltreich gibt es Bemühungen, die Bhangis, so nennt man die Entsorger, von ihrem Los zu befreien.

Zu jeder Kabine gehört ein Schild, das die Personenkapazität und den veranschlagten Baupreis nennt.

1970 gründete Dr. Pathak seine Nonprofit-Organisation. Eine Armee von 50‘000 Sulabh-Freiwilligen wurden in alle Regionen des Landes ausgesandt um die Vorzüge des Systems zu verkünden. Parallel dazu wurde das «Social upgrading» von Bhangis vorangetrieben. Das Sulabh Sanitation Movement gründete Institutionen, in denen Jugendliche aus betroffenen Familien einen Beruf erlernen können. Dr. Pathak verwendet sich auch dafür, dass die Unberührbaren bisher verbotene Tempelbezirke betreten können.

Unterwegs für hygienische Bedingungen und Gleichberechtigung. Beim Zugang zum Sulabh International Museum of Toilets steht eine Statue des Mahatma Gandhi, flankiert von einer Wasserträgerin und Dr. Bindeshwar Pathak, dem Gründer der Bewegung.

Das «Sulabh International Toilet Museum» beschränkt sich nicht auf die Darbietung der Grundanliegen der Bewegung, es ist auch eine Bildungs- und Forschungsstätte. Im Zentrum steht das Exkrement. Längst geht es nicht mehr nur um seine Entsorgung sondern auch darum, was man mit ihm alles machen kann. Seit 1984 befasst sich die Organisation mit der Nutzung von Biogas. Die Betreiber des Museums, auch sie bezeichnen sich als Freiwillige, kochen damit. Ein grosses Schild auf dem betreffenden Kabäuschen verkündet, dass hier Speisen mit menschlichen Ausscheidungen erwärmt werden.
 
Der fast religiöse Eifer, mit dem an dieser Stätte der Wert der thematisierten Materie hervorgehoben wird, nimmt bisweilen auch skurrile Züge an. So wird auch das «gereifte» Endprodukt in diversen Formen grosszügig zur Schau gestellt. Höhepunkt ist eine von 22 hohen Pforten, die der spanische Konzeptkünstler Santiago Sierra mit der Ausbeute aus einem Schacht angefertigt hat. Man guckt, schnüffelt und muss sich eingestehen: Die Herkunft der Rahmenfüllung wäre schwer zu erraten.

Eine von 22 Pforten, die der spanische Konzeptkünstler Santiago Sierra 2006 mit Material aus dem Schacht anfertigte.

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