In der Strömung – Architektur und Energie
Manuel Pestalozzi
21. Mai 2015
Strahlungs- und Strömungsskizze des Siemens HQ in Masdar City, Abu Dhabi, VAE. Bild: Sheppard Robson
Das Verhältnis zwischen Architektur und Energie ist vielschichtig und nicht ohne Paradoxe. Abseits der vitruvianischen Trias droht sich das Anliegen nach energetischer Effizienz zu verselbständigen und die Baukunst zur Buchhaltung zu degradieren.
Panta rhei – alles fliesst, sagte der griechische Philosoph Heraklit. Will heissen: Zeit und Energie sorgen für Vergänglichkeit. Eine Hauptaufgabe der Architektur besteht darin, sich gegen diese Interpretation zu stemmen und für Festigkeit, lateinisch Firmitas, zu sorgen. Architektur hat Energien dauerhaft zu widerstehen. Doch nach Möglichkeit macht sie sie sich auch zu Nutze. Die Gravitation wirkt auf Mauern ein und stabilisiert sie dadurch, Betonkerne leiten Horizontalkräfte des Windes oder seismischer Schwingungen ab und dienen gleichzeitig als vertikale Kanäle, auch für Energie. Widerstand und Firmitas stehen denn auch immer wieder im Zusammenhang mit dem Leiten der Energie. Die Festigkeit der Windmühlen zwingt den Luftstrom zum Antrieb ihrer Flügel, Staumauern leiten Wasser in Druckstollen, die gezielt Kraftwerke anpeilen. Das Umdirigieren der Ströme kann auch für eine unmittelbare Komfortsteigerung genutzt werden; in Wüstenregionen sorgen Badgirs, so heissen Windfänger auf Persisch, für Kühlung. Die kunstvoll gestalteten Türme bereichern die Silhouette von Städten wie Bam in Ostiran.
Badgirs lenken Luftströme in Innenräume. Windtürme in Bam, im Osten Irans. Bild: www.IranOnTrip.com
Die Kontrolle der Energie des Feuers ist eine noch ältere Errungenschaft des Menschen als die Architektur. Deshalb hat sich die Baukunst seit ihrem Bestehen damit auseinanderzusetzen, wie sich diese Energieform unterbringen und nutzbar machen lässt. Mit Firmitas hat das nichts mehr zu tun, Architektur leistet auch ohne importierte Energie Widerstand und bietet den genau gleichen Schutz. Man kann sich ja warm zudecken! Wir sind in der Sphäre der Utilitas angekommen.
Feuer ermöglicht im Haus zusätzliche Funktionen und grössere Behaglichkeit, es steigert dessen Nutzen. Doch das wurde nie wirklich ein architektonisches Thema und mag die Reserviertheit der Architektinnen und Architekten erklären, die gelegentlich von der Haustechnikbranche beklagt wird. Das Feuermanagement ist als technisches Problem seit Jahrhunderten Spezialistensache. Hafner bestimmten als Vorfahren der heutigen Haustechnikplaner die Art und den Ort des Verbrennungsprozesses, sorgten für die ausreichende Zufuhr von Luft und den sicheren Abzug des Rauchs. Den Architekten blieb bei alldem die Venustas: Wenn schon Feuer im Haus, dann elegant und stilvoll. Bei der Gestaltung und Anordnung von Herden, Cheminées, Öfen oder Kaminen können sie ihr gestalterisches Talent einbringen, unter Einhaltung der Regeln der Feuerungstechnik, die von teils beamteten Expertinnen und Experten verwaltet werden.
Seitenfassade des Chiswick House bei London von William Kent. Die Kamine des 1730 vollendeten kleinen Palastes werden kokett als Bestandteil der palladianischen Architektur inszeniert. Bild: Manuel Pestalozzi
Die letzten rund 150 Jahre brachten der Architektur die Baugrösse XXL, das durch die ganze kalte Jahreszeit permanent und vollständig bis unters Dach beheizte Haus, dünne Fassaden, Brennstoffe aus räumlich entfernten Quellen, die Explosion der Stadt und eine rasende, unstete Vermehrung von Gebäudetechnikonzepten. Die Architektur tat, was sie eigentlich immer tut: Sie reagierte mit der ihr eigenen Trägheit auf veränderte gesellschaftliche Anliegen. Energie per se blieb ein fachfremdes Thema. Mit der Befreiung des Hauses aus starren Bebauungsordnungen strebte man zwar danach, durch Positionierung und Ausrichtung von Baukörpern und Räumen die Segnungen von Sonne und Wind besser zu nutzen. Le Corbusier mühte sich bei den Projekten Cité de Refuge und Tsentrosoyuz redlich mit einer selbst konzipierten doppelten Glas-Heiz- und Lüftungsfassade ab. Energie war eine wichtige Sache, klar, aber nicht die Hauptsache.
Der Umgang mit Energie und Umwelt wird zur Quasi-Religion. Idealsiedlung Arcosanti in der Wüste Arizonas, seit 1970 im Bau. Foto www.arcosanti.org
Mit den Hippie-, Studenten-Bewegungen und dem Erdölschock wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Beziehung des Hauses zur Umwelt fundamental hinterfragt. Bauwerke sollten keine Schädlinge sein und die Natur nicht kaputt machen! Mit dieser saloppen Kurzfassung lässt sich die Palette der Forderungen subsumieren. Die Beziehung zwischen Architektur und Energie ist von dieser Verschiebung gesellschaftlicher Prioritäten direkt betroffen.
Wer kann gegen solche hehren Ziele Einwände haben? Politik und Wirtschaft reagierten sofort, Energiesparen am Bau ist hierzulande seither ein gesellschaftliches Dauerthema. Die guten Ratschläge, Mahnrufe, Sparappelle, Klimaprotokolle, Auflagen und Reglemente, die in den vergangenen 40 Jahren mit steigender Kadenz auf die duldsame Öffentlichkeit niederprasselten, lassen sich kaum mehr zählen. Trotzdem ist der allgemeine Energieverbrauch derweil auch in der Schweiz kräftig gestiegen. Vor dem Hintergrund dieses mit Gleichmut hingenommenen Selbstbetrugs ist die Architektur nach wie vor mit grossen Einspar- und Produktionshoffnungen konfrontiert.
New Environmental Office, BRE, in Garston, England. Energie-Experimental- und Ausnahmebau mit fünf Lüftungsschloten auf einem Uni-Campus. Errichtet 1996 und geplant von Feilden Clegg Bradley Studios. Bild: fcbstudios.com
Trotzdem war in der Architekturszene der Energieeffizienz als räumliches Thema, als Form- oder Stilfaktor bis anhin keine Breitenwirkung beschieden. Zwar gibt es auch hierzulande verschiedene Pioniere (es scheinen ausnahmslos Männer zu sein), die sich einen Namen als Spezialisten für energiesparendes Bauen gemacht haben. Ihre Vorbildfunktion scheint bescheiden; nur wenige Büros nutzen ihre Energieeinspar-Kompetenz als wichtigstes Marketingargument. Offenbar erachtet man das Starpotenzial als gering. Vielleicht liegt es ergänzend zur erwähnten Nebensächlichkeit des Themas für die Architektur auch an der Zweideutigkeit der gesellschaftlichen Anliegen bei der Energiefrage. Man will zwar einsparen aber einen Zuwachs an Komfort oder zumindest ein Halten des erreichten Niveaus. Auffallend ist ausserdem, dass es im Bauwesen hinsichtlich des richtigen Energiekonzeptes hierzulande keinen Konsens gibt. Es hat sich zwar für Neubauten so etwas ein „Mainstream“ entwickelt: dick einpacken, abdichten, mechanisch lüften. Dagegen gibt es aber auch eine bedeutende Opposition, gerade bei den Architektinnen und Architekten.
Steht auch auf einem Unicampus. Forum Chriesbach der Eawag in Dübendorf von Bob Gysin + Partner AG, errichtet 2004. Energie-Experimental- und Ausnahmebau, kaminlos, dafür mit einem unsichtbaren Erdregister. Bild: Eawag
Unvergessen ist die Aufregung, welche die Professorinnen und Professoren des Departements Architektur der ETH Zürich Ende 2010 mit ihrem Positionspapier «Towards Zero-Emission Architecture» verursachten. Es wendet sich gegen den von einschlägigen Energielabels etablierten Schätz-Messwerte-Kanon, welche die erwähnten Mainstream-Massnahmen fördern, und plädiert für eine Entkoppelung des Energieverbrauchs von den Emissionen. Energie gebe es im Überfluss, lautete das Argument von Professor Hansjürg Leibundgut, einem Haustechnikspezialisten, der ebenfalls hinter dem Positionspapier stand. Das Einpacken und Sparen stand plötzlich zur Debatte. Die professorale Intervention zeigte auch, wie stark die Architektinnen und Architekten im Bereich Energie im Sandwich sind zwischen Ansprüchen von Bauherrschaften und Energiespezialisten und wie sie Gefahr laufen, Sklaven von technischen Konzepten, behördlichen Reglementen und politischen Vorgaben zu werden.
B35, Experimentalwohnhaus in Zürich mit Saisonspeichern tief im Erdreich. Der Bauherr und Haustechnikexperte, der emeritierte ETH Professor Hansjürg Leibundgut, ist als Autor dieses Baus bekannter als die Architekten, AGPS Architecture Ltd. Bild: Manuel Pestalozzi
Neben der gebotenen CO2-Reduktion dürfen Architektinnen und Architekten das Energiethema natürlich nicht aus den Augen verlieren. Sie müssen im Bewusstsein handeln, dass in Gebäuden der Verbrauch reduziert und mit ihnen auch Energie erzeugt werden kann. Bereits sind erste Plusenergie-Häuser entstanden, die übers Jahr gerechnet mittels Photovoltaik-Modulen erzeugten überschüssigen elektrischen Strom ins Netz einspeisen oder vor Ort abgeben können, etwa an Akkus von Elektro-Fahrzeugen. Man mag die Funktion Stromerzeugung für eine «additive Massnahme» halten, die, wie oben erläutert, mit der Architektur nichts direkt zu tun hat, kann diese aber auch analog zu Le Corbusiers Dachgarten als Geste betrachten, mit der das Haus dem Boden, das es unter Beschlag nimmt, etwas zurückgibt.
Ein derzeit vielleicht zu wenig beachtetes Thema ist jenes der Saisonalität im Betrieb. Aus meiner Kindheit mag ich mich erinnern, wie jeden Frühling die Mieter ihre Vorfenster auf den Dachboden trugen und dort im Herbst wieder hervorholten und einsetzten. Die Fassade veränderte sich wundersam. Für Häuser und ihre Räume sollte es auch heute einen Sommer- und einen Winterbetrieb geben, gegebenenfalls mit Umwidmungen von Räumen und Ritualen wie der erwähnten Vorfensterprozession. In der Haustechnik ist die Nutzung saisonaler Temperaturschwankungen bereits ein bewährtes System: Saisonspeicher kühlen im Sommer Räumlichkeiten, im Winter sorgen sie für Heizwärme und warmes Wasser. Das ist nicht die grandiose Universallösung aller energetischen Ansprüche an ein Haus, aber ein bedeutender Baustein in einer Vielzahl an energetisch relevanten Massnahmen. Die Architektur sollte sich intensiv an ihnen beteiligen.