Hygiene, Schmutz und Architektur
Manuel Pestalozzi
11. Februar 2016
Wartende Schuhe auf indischen Tempelstufen. Stete Achtsamkeit und räumliche Trennung sind die Grundelemente der Sauberkeit in der Architektur. Bild: ontheroadwithjp.wordpress.com
Muss Architektur «sauber» sein? Überblickt man die Geschichte der Baukultur, scheint diese Eigenschaft sekundärer Natur. Doch das Thema Hygiene muss laufend neu ausgehandelt werden. Denn es gehört zur Kultur und ist interpretationsbedürftig.
Zwischen Laissez-faire und Obsession
Man muss nicht die Intelligenz eines Albert Einstein haben, um zu begreifen, dass Schmutz und Hygiene nur in Relation zu Konventionen und Standards betrachtet werden können. Was ist schon Schmutz? Der Begriff subsummiert Ein- und Ablagerungen, die nicht erwünscht sind und automatisch dort landen, wo man sie vorfindet. Schmutz ist auf der Erde, im Wasser und in der Luft, ein amorphes Konglomerat von organischen und anorganischen Partikeln, Spritzer der Ursuppe sozusagen, je nachdem auch Dreck, Staub oder Mist genannt. Zu Schmutz wird es eigentlich erst, wenn es aktiv stört. Und es muss nicht unbedingt stören. Nicht alle, jedenfalls.
Die Erkenntnis, dass Schmutz der Gesundheit abträglich sein kann, ist eher neu. Die Hygiene hat aber als wissenschaftliche Interpretation der Sauberkeit ein neues Reinheits- und Reinlichkeitsbewusstsein geschaffen. Waren das Abwaschen und Wegführen von Schmutz zuvor primär auf religiöse Rituale oder vorindustrielles Arbeitsmanagement beschränkt, ging es nun plötzlich um die Sache selbst; Schmutz wurde fortan unter die Lupe genommen und auf seine Wirkungen untersucht. Die Funde lösten in breiten Kreisen der aufgeklärten Welt blankes Entsetzen aus. Warnrufe erreichten ein breites Publikum, dem Schmutz wurde der erbarmungslose Kampf angesagt. Nun ist es eine Eigenschaft von Schmutz, dass er zur Essenz der Erde gehört und seine Vernichtung unmöglich ist. Deshalb muss man sich darauf beschränken, ihn aus bestimmten Regionen auszugrenzen und gegebenenfalls an geeigneter Stelle zu sammeln.
Schmutz-Zwischenlager als traditionelle, vergängliche Baukunst: sauber gezöpfelter Miststock im Berner Oberland. Bild: Rudolf Haudenschild, www.schweizerbauer.ch
Seit der Verbreitung des Hygiene-Gedankens gilt Sauberkeit nicht mehr bloss als eine religiöse Tugend oder Arbeitsmethodik sondern als Bürgerpflicht. Das ganze Volk ist eingeladen, sich an der Freihaltung oder Befreiung menschlicher Lebensräume von Schmutz zu beteiligen. In gewissen Kreisen treibt die Erziehung zur Hygiene wilde Blüten. So kennt unsere Kultur den Putzfimmel, der in einen regelrechen Reinlichkeitswahn ausarten kann. Obsessives Saubermachen kann im Zusammenhang mit Sozialprestige, respektive der Sorge darum, oder mit einer übersteigerten Angst vor Krankheiten zusammenhängen. Es ist mitunter gesundheitsschädigend. Man hört sogar Stimmen, die meinen, die wachsende Zahl von Allergien könnte im Zusammenhang mit übertriebener Sauberkeit stehen. Demnach sollte der Mensch in der Lage sein, sich an eine bestimmte Quantität Schmutz zu gewöhnen.
Die Architektur ist eine stumme, willige Begleiterin dieser Entwicklungen. Sauberkeit gehört nicht zu den primären Anforderungen für gute Baukunst, Hygiene im Zusammenhang mit Schmutzfreiheit kommt in architekturtheoretischen Traktaten eher am Rand vor. Das ist insofern nicht überraschend, als dass das Sauberhalten von Bauwerken Aufgabe jener ist, welche sie betreiben oder nutzen. Dennoch legt das architektonische Konzept – unter Umständen ergänzt durch bauphysikalische und gebäudetechnische Entscheide – zusammen mit der Materialisierung die Grundlagen für hygienische Verhältnisse.
Schmutzentfernung als modisches Accessoire der Belle Epoque: Scharreisen bei einem Hauseingang in Baden-Baden. Bild: Frank C. Müller, Wikimedia Commons
Barrieren und Stufen
Bei der Urhütte spielte die Freiheit von Schmutz noch keine Rolle. Der Schutz vor Klima und Witterung hatte Vorrang. Doch schon bei frühen Sakralbauten ist das Bedürfnis erkennbar, Heimstätten – und seien es jene der Götter oder von verstorbenen Ahnen – aus dem Staub zu heben. Ein erhöhtes Niveau trennt den geheiligten Boden von der gemeinen Erdkruste. Entweder ruht diese künstliche Ebene auf Stützen oder sie bildet, wie die Krepis beim Griechischen Tempel, eine massive Plattform. In beiden Fällen dienen Stufenfolgen als Pfad zu einer tieferen Reinlichkeit. Auch Schwellen zwingen die Eintretenden, ihre Füsse zu heben. Sie sind bei historischen Sakralbauten ebenfalls häufig anzutreffen und sorgen dafür, dass dem Staub eine sichtbare Barriere gesetzt wird. Dass man in manchen Kulturen vor oder auf diesen Stufen die Schuhe auszieht, ist ebenfalls ein Gebot, das dem Wunsch nach Sauberkeit geschuldet ist.
Diese Massnahmen setzten sich auch bei Profanbauten durch. Der Unterbau wurde raumhaltig, man nutzte ihn als Stall, als Werkstatt, Lager oder Ladenräumlichkeit – für Aktivitäten oder Bedürfnisse, die besonders viel Schmutz anzogen oder generierten. So war es über Jahrhunderte die Aufgabe des Sockels, Wohnungen, Studierzimmer oder Kontore von Staub und Dreck fernzuhalten. Die Ebenen dieser horizontalen Raumschichtung mit variierendem Reinheitsgrad wurden für sich noch mit Schwellen in Teilbereiche gegliedert. Schmutz lagerte sich natürlich trotzdem ab, wenn auch in geringerem Mass. Wer es sich leisten konnte, beschäftigte Dienstpersonal mit Staubwedeln, Mops und Kehreimern, die einen ewigen Kampf ausfochten.
Stufen der Sauberkeit. Der Hausherr schreitet die Treppe hinab, der Diener folgt ihm mit Besen und Schaufel. Videoframe aus dem Film «The Remains of the Day». Bild: Sony Pictures Home Entertainment
Der Schmutz und die Moderne
Mit der Moderne erhielt das Verhältnis zwischen der Architektur und dem Schmutz zweifellos eine neue Dimension. Das Neue Bauen war ja im Wesentlichen eine Revolution gegen Staubfänger und für mehr Hygiene. Sanatorien und Architekten wie Rudolf Gaberel bereiteten der Moderne den Weg. Licht, Luft und Sonne hiess die Devise, Dreck hatte da definitiv keinen Platz. Glatte, oft abwaschbare Oberflächen und leichte, bewegliche Möbel und Installationen erleichterten die Reinigung. Schmutz lagerte sich natürlich trotzdem ab, und auf den hellen, glatten transparenten Oberflächen sah man ihn besser als je zuvor. Dienstpersonal konnten sich immer weniger Haushalte leisten. Dafür erhielten die Straussenwedel Konkurrenz durch Staubsauger, vielleicht sogar Zentralstaubsauger mit Anschlüssen in der ganzen Wohnung, die Ablagerungen in Behälter im Gebäudesockel spedieren.
Der Bidet-Fetischist Le Corbusier trieb neben zahlreichen anderen Dingen auch die Idee der zeitgemässen Hygiene energisch voran. Sein Bild des gesunden, modernen Wohnenden ist in zahlreichen Innenraumskizzen überliefert. Verschiedene Projekte legen den Schluss nahe, dass er das Bad als Reinigungs- und Schmutzabführanlage zum vollwertigen Aufenthaltsraum beförderte. Er gehört somit zu den Begründern einer modernen Badezimmerkultur, welche die Industrie bis heute liebevoll pflegt.
Bad in der Villa Savoye, Poissy, von Le Corbusier. Die Schmutz-Abführanlage wird in die allgemeine Wohnzone integriert. Bild: miladysboudoir.files.wordpress.com
Das Bedürfnis nach Sauberkeit und Reinheit erstreckt sich heute über alle Bauteile. Nicht nur Innenräume sollen schmutzfrei sein, auch die Fassaden vieler moderner Gebäude verlangen nach einer regelmässigen Reinigung. Schmutzspuren würden ihren Charakter, der permanente Reinheit verheisst, empfindlich beeinträchtigen. Manchmal keimt der Verdacht auf, dass der Unterhaltsaufwand von Bauten, die Prinzipien der Moderne gehorchen, wesentlich grösser ist als jener für ihre Vorgänger, die noch «Staub schlucken» konnten.
Mit der 68er-Revolution wurde der «Sauberkeitsfimmel» der Moderne erstmals breit hinterfragt. Schmuddelecken waren plötzlich hip. Das architekturtheoretische Material zu dieser Wende lieferte ein Mann, der in der Architekturszene nicht besonders ernst genommen wird: 1958 trug der österreichische Künstler und Fassadengestalter Friedensreich Hundertwasser zum ersten Mal sein «Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur» vor. Dieses ist zwar nicht direkt ein Plädoyer für mehr Schmutz oder mehr Toleranz für diesen, es wendet sich aber direkt gegen das Primat der auf Hygieneüberlegungen beruhenden Ordnung. Und wenn man das höchst populäre Hundertwasserhaus in Wien besucht, kann es sein, dass man den dunklen Hof des Hauses für Bauten seines Alters doch eher etwas moderig findet.
Die Überbauung Les Schtroumpfs in Genfs Quartier Les Grottes entstand von 1982-1984. Wie Gebäude des Künstlers Friedensreich Hundertwasser geht dieses Werk der Architekten Frei, Hunziker et Berthoud auf Distanz zu den Prinzipien der Moderne. Hygiene ist kein Ausdrucksmittel, Schmutz scheint keine Schande. Bild: mapio.net
Dichtigkeit und Schleusen
Die Standards der Moderne gelten hinsichtlich Sauberkeit und Hygiene grundsätzlich bis heute und werden meistens auch bei Sanierungen vormoderner Bauwerke angewendet. Die Trennung sauberer Bereiche von der schmutzigen Aussenwelt ist dank gut dichtenden Fenstern und Türen einfacher geworden. Aktuelle Neubauten können auf Untersatz oder Sockel verzichten. Seitdem das Vorfeld der Eingangszonen fast immer gepflästert oder asphaltiert ist, hat sich das Einschleppen von Schmutz mit Sicherheit vermindert. All dies erleichtert die Durchsetzung der Stufen- und Schwellenlosigkeit, welche die Barrierefreiheit verlangt. Die Ergänzung der Dichtigkeit durch eine kontrollierte Lüftung erhöht die Distanz zum Schmutz zusätzlich und sorgt für eine unter Umständen durch Filter gereinigte «postmoderne» Luft, welche den modernen Ruf nach Licht, Luft und Sonne etwas gedämpft erklingen lässt.
Der Wunsch nach der klinischen Freiheit von Schmutz wird in den Reinräumen auf die Spitze getrieben. Sie dienen der Forschung oder der Produktion von Gegenständen oder Substanzen und versinnbildlichen das Ende der Sauberkeitsskala, das eigentlich nicht mehr von dieser Welt ist. Reinräume bieten Weltallkonditionen, ihre Sauberkeit ist lebensfeindlich. Menschen haben hier als permanente Schmutzquellen eigentlich nichts mehr verloren und dürfen sich nur in Raumanzügen durch sie bewegen. Ist das notwendig, so haben sie eine Schleuse zu passieren, eine Zwischenzone mit doppelter Dichtigkeit, die zwischen hüben und drüben vermittelt. Es gibt diesen Raum zwar seit geraumer Zeit, er wartet aber als rein technische Zweckeinheit noch auf seine architektonische Interpretation.
Am Rande der absoluten Schmutzfreiheit befindet sich die Reinraumschleuse. Bild: Dittel Engineering
Epilog
Sauberkeit ist im Gegensatz zur wissenschaftlich begründeten Hygiene Empfindungssache. Architektur kann selbst dann als «sauber» gelten, wenn die Putzequipe ihren Einsatz verpasst hat und der Schmutz einer Reinigungsperiode liegenbleibt. Man kann sogar behaupten, dass jedem architektonischen Konzept ein Sauberkeitsprinzip innewohnt, das vielleicht gar nicht bewusst in die Planungsüberlegungen mit einbezogen wurde. In diesem Zusammenhang ist es faszinierend zu beobachten, wie die «neue Rauheit» in der Schweizer Architektur ein weiteres Kapitel in der Beziehung von Bauten und dem Schmutz aufzuschlagen scheint. Die Erweiterung des Landesmuseums in Zürich setzt auf Sichtbetonwände und -böden, die Ecke mit den Lüftungsrohren bleibt unverkleidet, trotzdem wirkt alles edel und kostbar. Spannend wartet man ab, was die ersten Ablagerungen hier bewirken werden, und ob und wie man ihnen zu Leibe rückt.