Fortschrittliche «Rückständigkeit»

Inge Beckel
12. September 2013
Wohnhaus in Batak, Sumatra (Bild: Deidi van Schaewen/alle Bilder wurden vom Vitra-Design-Museum zur Verfügung gestellt)

«Die Dogon-Wohnhäuser in Mali sind ausschliesslich aus Lehm gebaut und stehen für ein ökologisches Bauen, das nur 1 % der Energie braucht, die notwendig wäre, um ein vergleichbares Gebäude aus Beton oder Ziegel zu errichten – und für den Rückbau bedeutet es keinerlei Energieeinsatz», liest man in der vom Lausanner EPF-Professor Pierre Frey kuratierten Ausstellung Learning from Vernacular, die derzeit im Vitra-Design-Museum in Weil zu sehen ist.

​Das englische Wort vernacular lässt sich nur schlecht ins Deutsche übersetzen, es finden sich als Möglichkeiten örtlich, einheimisch, traditionell oder vernakulär. Im Grundsatz handelt es sich um Formen und Konstruktionen, die sich, ausgehend von den Bedürfnissen und Gewohnheiten der Menschen, als Resultat aus örtlich verfügbaren Materialien und den klimatischen Gegebenheiten herausgebildet haben, über Jahrhunderte weitergegeben und leicht oder stärker modifiziert wurden. Es handelt sich nicht um architektonische Erfindungen im engeren Sinne, eher könnte man die Bauten als Typen oder Typologien bezeichnen. Zudem ist dieses Bauen nicht primär an der Form interessiert, vielmehr werden in der Ausstellung drei Kriterien genannt, die hier zentral stehen: Einmal, dass das Schaffen von Räumen für menschliche Gemeinschaften ein zentrales Anliegen vernakulären Bauens ist, weiter, dass es in enger Beziehung zur Natur steht – und diese nicht als Gegensatz zur Architektur versteht, wie in der Moderne oft geschehen –, und schliesslich dass die verbauten Materialien just vorrangig Lehm, Holz oder Stein sind, also die jeweils lokal verfügbaren.

Das Eine tun und das Andere nicht lassen
Vernakuläres Bauen ist damit also grundsätzlich ein lokal verankertes Bauen, nicht nur bezüglich der regional gewonnenen Baumaterialien, sondern auch hinsichtlich der zuliefernden und verarbeitenden Betriebe. Und es wurde – und wird zuweilen noch immer – als Gegensatz, ja geradezu als sich ausschliessender Gegenpol, zur Moderne betrachtet. Sicherlich hat die reinigende, abstrahierende Moderne das industrielle Bauen der Baukultur mit Erfolg einverleibt. Auch Licht, Luft und Panoramen hat sie gebracht.
Nun soll es aber nicht darum gehen, das Herkömmliche oder Traditionelle gegen das Moderne auszuspielen. Vielmehr muss es heute darum gehen, dort, wo das sogenannt moderne, technizistische Bauen an Grenzen stösst, sich auf lokal Bekanntes und Überliefertes zu besinnen. Gerade vor dem Hintergrund der Notwendigkeit eines zunehmend Energie und Ressourcen schonenden Bauens können wir bei lokalen, herkömmlichen Typen wohl viel Wichtiges (wieder-) finden und davon lernen, wie das einleitende Zitat veranschaulicht. Hinsichtlich Erdbebensicherheit beispielsweise gibt es Konstruktionen, die Beben über Jahrhunderte standgehalten haben, etwa die abwechselnd geschichteten Wände aus Holzbalken und Steinen im afghanischen Nuristan. Auch hielten die Schiff ähnlichen Batak-Häuser auf Sumatra 2004 einem Erdbeben stand. Während etwa Lehmhäuser mit Innenhöfen auch bei äusserst hohen Temperaturen einen erstaunlich guten Klimahaushalt garantieren, denn einerseits können die Lehmmassen die kühlen Nachttemperaturen bis weit in den Tag hinein speichern, während andererseits der Innenhof für die nötige Durchlüftung sorgt.

Musgum Shell-Hütte, Kamerun

Zeitgenössisch umsetzen
Sicherlich leben wir nicht länger wie unsere (Ur-) Grosseltern und können entsprechend «ihre» Häuser und mit ihnen deren Konstruktionen und Ausgestaltungen nicht einfach kopieren und tel-quel übernehmen. Vielmehr braucht es Anpassungen, Adaptionen, Transformationen. Im Sinne eines Weiterbauens gilt es, Bewährtes aufzugreifen, es zu studieren, den heutigen Bedürfnissen und Erfordernissen anzupassen und damit schliesslich zeitgenössisch zu modifizieren.
Schon nach dem Zweiten Weltkrieg, als Frankreich sinngemäss noch «Kolonialherr» des Norden Afrikas war, experimentierten die beiden Schweizer Architekten Jean Hentsch (1921–84) und André Studer (1926–2007) in Casablanca mit lokalen Bautraditionen, als sie das so genannte Habitat Marocain planten und realisierten. Hierzu ist derzeit eine schöne Ausstellung im Architekturforum Zürich zu sehen. In einem Interview erklärt André Studer seine Absichten, das lokale Bauen mit Innenhöfen in eine gestapelte Form zu übersetzen, denn städtebaulich war es seine Absicht, dem ausufernenden unkontrollierten Bauen der Bidonvilles entgegenzuwirken. Während in Weil am Rhein Beispiele aus jüngster Zeit zu sehen sind, wo jeweils lokale Traditionen zeitgenössisch adaptiert oder einfach wieder aufgegriffen wurden, etwa wenn Carin Smuts bei einem Kulturzentrum in Südafrika sowohl räumlich als auch hinsichtlich der Farben und Ornamente an Traditionen vor Ort anknüpft oder wenn Bijoy Jain und das Mumbai Studio beim Palmyra House gezielt auf altes Handwerk setzten.

DESI School for Electrical Engineering, Rudrapur, Bangladesh, 2007/08; Architektin BASEhabitat/Anna Heringer (Bild: Construction Team)

In der Zeit
In der Ausstellung in Weil ist auch ein alter Speicher aus dem Val d'Hérens zu sehen. Unter den zeitgenössischen Beipielen von Adaptionen oder Transformationen traditioneller Typologien und herkömmlichen Konstruktionsmethoden jedoch finden sich nur aussereuropäische Bauten. Sicherlich könnten hier die derzeit im Alpinen Museum in Bern ausgestellten Objekte aus dem Alpenraum, die nachhaltiges Bauen thematisieren, die Reihe gewinnbringend ergänzen.
Das in Weil verantwortliche Ausstellungskuratorium fasst die heutiges vernakuläres Bauen bestimmenden Charakteristiken in vier Punkten zusammen: Erstens sind die Gemeinschaft oder das Kollektiv wichtig, sei es die Gemeinschaft der das Bauwerk später Nutzenden oder das bauende Kollektiv. Zweitens spielen rezyklierte Materialien eine zentrale Rolle oder solche, die später wiederverwendet werden können. Drittens wird (teilweise) mit traditionellem Handwerk gebaut. Und schliesslich, so lautet ihre Erfahrung, ist jüngere vernakuläre Architektur weltweit stark weiblich geprägt, es finden sich – im Vergleich zum bauenden Durchschnitt – überdurchschnittlich viele involvierte Frauen. Damit ist vernakuläres, lokal verankertes, Traditionen weiterstrickendes Bauen keineswegs rückständig, wie es leider zuweilen noch immer wahrgenommen wird, sondern vielmehr von hoher Aktualität. Und schliesslich, um sinngemäss wieder einmal den jüngst verstorbenen Kunst- und Architekturhistoriker Adolf Max Vogt zu zitieren, steht diese Architektur in der Zeit – und nicht (vermeintlich) über der Zeit. Sie baut am Bestand weiter, ohne ihn negieren oder gar zerstören zu wollen, aber auch, ohne das Alte einzufrieren. Denn schliesslich schafft Heimat, wer die Welt des Bekannten erweitert!

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