Ein Jahrhundert-Kalender
Inge Beckel
22. Dezember 2016
1959: Solomon R. Guggenheim Museum, Frank Lloyd Wright. Bild: David Heald © SRGF, NY
Für jedes Jahr ein Haus. Eine derartig geraffte Architekturgeschichte zeigt «100 Years – 100 Buildings». Dazu einige Gedanken – respektive hieraus wenige ausgewählte Stationen.
Zusammengestellt hat die Auswahl unser Kollege John Hill. 100 Jahre – 100 Bauwerke ist ein schönes, grossformatiges und durchwegs farbiges Buch, das auch in deutscher Sprache aufliegt. Es lädt zum entspannten Durchblättern wie zum vertieften Lesen ein. Und stellt ein eigentliches Kompendium primär westlicher Architektur des letzten Jahrhunderts dar. Und ist vielleicht gar ein passendes Weihnachtsgeschenk für den einen Verwandten oder die andere Freundin.
1916: Holland House, H.P. Berlage. Bild: Dennis Gilbert / VIEW
Den Auftakt macht Henrik Petrus Berlages Holland House aus dem Jahre 1916 in London. Der Niederländer Berlage (1856–1934) war mit der Beurs in Amsterdam (1903) international bekannt geworden und später von der holländischen Reederei W. H. Müller & Co. mit deren Londoner Depandance beauftragt worden. Das Holland House gilt als erster Stahlskelettbau in Europa, besonderes Merkmal ist die vertikale Fassadenverkleidung aus grünlich glasierten Terrakottaziegeln, die in Delft hergestellt und nach London verfrachtet wurden. Das Jahr 1917 wird von der Krypta der Colònia Güell von Antonio Gaudi (1852–1926) repräsentiert, 1919 vom Hauptbahnhof in Helsinki von Eliel Saarinen (1873–1950), 1921 dann vom Einsteinturm von Erich Mendelsohn (1887–1953) in Potsdam.
1946 markiert die futuristische Dymaxion-Wohnmaschine von Richard Buckminster Fuller (1895–1983) in Dearborn im US-Bundesstaat Michigan. Der Entwurf stammte jedoch bereits aus dem Jahre 1927. Inspiriert von der Autoindustrie, stellte sich Fuller derartige Aluminium-Elemente als Äquivalent fürs Wohnen vor. Für 1959 folgt Frank Lloyd Wrights (1867–1959) sich nach oben weitende Raumspirale fürs Guggenheim Museum in Manhattan, New York. 1976 dann Jørn Utzons (1918–2008) Kirche im dänischen Bagsværd, ein Sakralraum als lichtdurchflutete Raumskulptur. Von Utzon ist 1973 zudem das Sydney Opera House vertreten, der einzige Bau in Australien. Den Abschluss macht 2015 The Broad von Diller Scofidio + Renfro, ein Kunstmuseum in Los Angeles.
1946: Dymaxion Dwelling Machine, R. Buckminster Fuller. Bild: Bryan Boyer
Nun bedeutet eine Auswahl von einem einzigen Bau pro Jahr notwendigerweise immer ein Weglassen von vielen anderen, auch wichtigen Architektur- und Zeitzeugen. So wäre es beispielsweise möglich gewesen, anstelle der Kirche Cristo Obrero von Eladio Dieste (1917–2000) in Uruguay fürs Jahr 1960 Aldo van Eijcks (1918–1999) strukturalistisches Weeshuis in Amsterdam zu zeigen. Doch gilt es bei einer derartigen Reduktion von 100 Jahren Architekturgeschehen ja, verschiedene Kriterien einzubeziehen. Hill spricht diesbezüglich in der Einleitung davon, dass er sich weniger an Stilen orientierte als versuchte aufzuspüren, wie Architekten mit den Faktoren Kontext, Technik, Material oder gar Konzept umgehen. Gleichzeitig lässt sich stets ein gewisser Zeitgeist ausmachen, was etwa bedeutet, dass religiöse Bauten international mehrheitlich vor 1920 zu finden sind. Während Museen die jüngste Zeit bis in die Gegenwart prägen.
Vorausblickend meint der Autor, es würden wohl Faktoren wichtiger werden, die über die Repräsentanz des isolierten Gebäudes hinausgingen. Nun prägt der ein Werk umgebende Kontext jedes Haus, ob man sich damit auseinandersetzen mag oder nicht. Doch fokussierte die Moderne der Architektur klar auf Solitäre. Es war mitunter Aldo Rossi (in der Publikation nicht vertreten), der mit L'architettura della città 1966 den Blick verstärkt auf den Kontext zurücklenkte. Ein anderer Gedanke betrifft den Schutz guter Bauten. Hill denkt vor allem an Innovationen, sagt er doch, zeitgenössische Architektur neige dazu, Innovation der Bewahrung vorzuziehen. Schliesslich wird angesichts der prognostizierten zehn Milliarden Menschen in 2065 eine gesellschaftlich verantwortliche Architektur bedeutender werden, was vor allem den sozialen Wohnungsbau betrifft – eine Kategorie, die in den letzten 100 Jahren nur punktuell hervorstach.
1976: Bagsværd Church, Jørn Utzon. Bild: Seier + Seier
Die Schweiz betreffend repräsentiert Le Corbusiers Pavillon de l'Esprit Nouveau das Jahr 1925. Ursprünglich für die Weltausstellung in Paris errichtet, wurde er 1977 unter der Leitung von Giuliano Greslieri und Jose Oubrerie in Bolognas Messebezirk wieder aufgebaut, wo man ihn noch immer besichtigen kann. Vom schweizerisch-französischen Doppelbürger sind weiter 1931 die Villa Savoye in Poissy, 1943 das Ministerium für Bildung und Gesundheit in Rio de Janeiro, dieses zusammen mit Lúcio Costa, sowie 1954 das Mill Owners' Association Building in Ahmedabad und schliesslich Notre Dame du Haut in Ronchamp 1955 vertreten. 1928 folgt Rudolf Steiners Goetheanum in Dornach, dann 1990 der Bahnhof Stadelhofen in Zürich und schliesslich 1996 die Therme Vals. Herzog & de Meuron sind 2005 mit dem de Young Museum in San Francisco vertreten.